Serie

Freudensprünge und viel Frust: AZ-Serie zur Heim-WM 1974

Vier Mal hat die deutsche Mannschaft bisher bei der Fußball-WM triumphieren können. In der neuen Serie wirft die AZ einen Blick auf diese unvergessenen Momente. Dieses Mal: die Heim-WM 1974.
Florian Kinast |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Der Schuss ins weltmeisterliche Glück: Gerd Müller (M.), der "Bomber der Nation," trifft in der 43. Minute des Finales gegen die Niederlande bei der Heim-WM 1974 zum 2:1 - es ist der Siegtreffer.
picture alliance / dpa 2 Der Schuss ins weltmeisterliche Glück: Gerd Müller (M.), der "Bomber der Nation," trifft in der 43. Minute des Finales gegen die Niederlande bei der Heim-WM 1974 zum 2:1 - es ist der Siegtreffer.
Weltmeister, aber auch Frustschieber: Müller, Herzog, Nigbur und Breitner (v.l.) beim Bankett nach dem Titelgewinn.
imago images/Horstmüller 2 Weltmeister, aber auch Frustschieber: Müller, Herzog, Nigbur und Breitner (v.l.) beim Bankett nach dem Titelgewinn.

Am Sonntag ist es soweit, dann wird es im Wüstenstaat Katar erstmals in der Geschichte eine Winter-Fußball-WM geben. Zeit für einen Blick zurück auf die deutsche WM-Herrlichkeit mit seinen bisher vier WM-Titeln.

AZ-Reporter Florian Kinast, der gerade das Buch "Die Könige der Welt - die Geschichte der Fußballweltmeisterschaften von 1930 bis heute" veröffentlicht hat, nimmt sich dieser historischen Momente in der neuen AZ-Serie an.

Heute: Teil II: Die Heim-WM 1974 mit dem Triumph in München

Natürlich war die Gefühlslage bei allen Beteiligten sehr unterschiedlich, am Abend des 7. Juli 1974. Wenige Stunden nach Abpfiff des Endspiels war es nachvollziehbar, dass sich bei der einen Mannschaft Missstimmung breitgemacht hatte, während die Akteure des anderen Teams am Ende dieses historischen Tages eine große Sause starteten und ausgelassen den Titelgewinn bejubelten.

Erstaunlich war nur, wer Frust schob. Und wer feierte. Denn während Franz Beckenbauer und seine Mitstreiter grantig grollten und nach dem Boykott des schmuckvollen Siegesbanketts im Münchner Hilton schmollend von dannen trotteten, ging gut 50 Kilometer weiter südlich im Team-Quartier der unterlegenen Niederländer die Party erst richtig los.

WM 1974: Sehr eigenartige Weltmeisterschaft

Die Spieler um Johan Cruyff und Johan Neeskens trugen ihren Trainer Rinus Michels auf Händen und Schultern durch den Festsaal des Hotels Bachmair am Tegernsee, sie tanzten und sangen und intonierten, dass sie und nur sie Wereldkampioen seien. Die Holländer? Weltmeister? Litten sie an Kurzzeit-Amnesie? Hatten die Oranjes was geraucht?

Irgendwie passte dieses bizarre Ende aber doch sehr gut zu dieser an sich schon sehr eigenartigen Weltmeisterschaft, die von Beginn an seltsam anmutete und die in eine Zeit fiel, in der Deutschland in einer Selbstfindungsphase steckte und mittendrin in einer Zäsur.

Keine sechs Wochen vor dem Beginn der WM war Willy Brandt als Bundeskanzler zurückgetreten - als Konsequenz aus der Affäre um seinen persönlichen Referenten Günter Guillaume, der dann als Spion der DDR aufflog.

Machtübergabe Brandt an Schmidt: Sinnbildlich für das Ende einer Ära

Die Machtübergabe von Brandt an Helmut Schmidt stand sinnbildlich für das Ende einer Ära, die von großer Aufbruchsstimmung geprägt war, von den Umwälzungen der 68er-Generation, von einem Hauch von Rebellion. Und für den Neuanfang einer Epoche des neuen pragmatischen Realismus.

Hier Brandt, der leidenschaftliche Visionär, dem mit seiner neuen Ostpolitik ein Wandel durch Annäherung an Moskau und Ost-Berlin gelang und der in Warschau auf die Knie ging. Dort Helmut Schmidt, der nüchtern kühle Hanseate, dessen Politikstil von Sachlichkeit geprägt war und von dem das schöne Zitat überliefert ist: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen."

Dazu kam eine angespannte Wirtschaftslage, die boomenden Wunderjahre waren mit der Ölkrise von 1973 endgültig vorbei. Der Aufschwung war ausgebremst, Deutschland wurde spaßbefreiter, eine neue Spießigkeit machte sich breit. Der Sound von Deutschland war nicht mehr Woodstock. Deutschland klang mehr nach ZDF-Hitparade mit Dieter Thomas Heck.

Lesen Sie auch

DFB für EM-Titel 1972 stark gefreiert

Und genauso entwickelte sich in jenen Jahren auch das Spiel der deutschen Nationalmannschaft.

Was war die DFB-Auswahl zwei Jahre zuvor noch gefeiert worden, als sie 1972 Europameister wurde, als sie auf dem Weg zum Titel in einem denkwürdigen Spiel in Wembley 3:1 siegte. Das erste Mal überhaupt, dass eine deutsche Mannschaft ein Länderspiel in England gewann, doch es war vor allem das furios kreative Offensivspiel, das damals national wie international für Begeisterung sorgte.

Über Günter Netzer, der in jenem Spiel neben Franz Beckenbauer aus der eigenen Abwehr das Angriffsspiel aufzog, schrieb Karl Heinz Bohrer, der Essayist, Literat und damalige London-Korrespondent der "FAZ" den heute vielzitierten Satz: "Netzer kam aus der Tiefe des Raumes."

Wembley 1972, das war ein Jahrzehnt nach dem endgültigen Ende der von Gehorsam, Drill und Disziplin geprägten Nachkriegs-Herberger-Epoche der Triumph des Individuums, das Hochamt des Freigeists. Es war in Anlehnung an das Zitat von Willy Brandt die Zeit, in der der deutsche Fußball mehr Demokratie wagte. So groß die Begeisterung über das wundervolle Spiel gewesen war, so schnell ebbte der Enthusiasmus bis zum Beginn der WM zwei Jahre später wieder ab. Niederlagen in Freundschaftsspielen gegen Argentinien und Jugoslawien, gegen Brasilien und Spanien sorgten für einen Stimmungsdämpfer im Land. Mochte das Team von Trainer Helmut Schön zwar noch als Favorit gelten, wirklich große Vorfreude auf das Turnier stellte sich nicht ein.

Schon allein das Rahmenprogramm war etwas bemüht und wenig inspiriert. In Gelsenkirchen veranstaltete man an einer Torwand ein Kopfkissenwerfen für Hausfrauen, in Hannover errichtete man die "längste Lüttje-Lagen-Theke der Welt". Für Nicht-Niedersachsen: Lüttje Lage ist eine regionale Spezialität, ein Mischgetränk aus obergärigem Schankbier und Kornbrand. Anders als mit viel Alkohol schien diese WM nicht zu ertragen. Und da war ja auch noch die Schlagzeile der "Bild", die in ihrer bekannten Art titelte: "Cruyff, Sekt, nackte Mädchen und ein kühles Bad."

Weltmeister, aber auch Frustschieber: Müller, Herzog, Nigbur und Breitner (v.l.) beim Bankett nach dem Titelgewinn.
Weltmeister, aber auch Frustschieber: Müller, Herzog, Nigbur und Breitner (v.l.) beim Bankett nach dem Titelgewinn. © imago images/Horstmüller

Final-Niederlage 1974: Größte Trauma Hollands

Gemeint war damit die recht entspannt gesellige Pool-Party, bei der die Spieler noch vor dem Brasilien-Spiel in ihrem Mannschaftshotel bei Münster gefeiert hatten. Man sah Bilder des Zigarre rauchenden Cruyff, las Berichte, wie er mit "einer rothaarigen Unbekannten" in "einer dunklen Ecke" verschwunden sei: Bei Trainer Michels kam die Berichterstattung nicht gut an, der General meinte vor dem Finale martialisch zu deutschen Reportern, es herrsche "Krieg zwischen uns. Und Krieg ist Krieg."

Eine Formulierung, die kurzzeitig auch alte Gräben wieder aufriss - nicht einmal 30 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs, in dem Nazi-Deutschland Holland mit Gräuel, Tod und Verderben überzogen hatte, in dem Rinus Michels als 16-Jähriger 1944/45 den fürchterlichen "Hongerwinter" miterlebte, in dem Kuki Krol, der Vater von Verteidiger Ruud Krol, als Mitglied einer Amsterdamer Widerstandsgruppe Juden bei sich daheim versteckte und somit vor der Deportation rettete, in dem der von einer abgrundtiefen Antipathie gegen alles Deutsche geprägte Mittelfeldspieler Wim van Hanegem als Kleinkind seinen Vater, zwei Brüder und eine Schwester verloren hatte.

Der niederländische Dramatiker und Regisseur Johan Timmers nannte die Final-Niederlage 1974 später "das größte Trauma Hollands im 20. Jahrhundert, sieht man von der Flut 1953 und dem Zweiten Weltkrieg ab."

Was das Team Oranje aber eben nicht daran hinderte, in einem Anflug von kollektiver Realitätsverweigerung am Abend im Team-Hotel am Tegernsee noch einmal einen Titelgewinn zu feiern, den es so gar nicht gab.


"Könige der Welt" von AZ-Reporter Florian Kinast ist im dtv-Verlag erschienen, 489 Seiten, 16 Euro

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.