Vokuhila, Feinde, Kissen: Bevor Oliver Kahn beim FC Bayern zum Titan wurde
München - Nein, es ist nicht die von Peter Handke beschriebene "Angst des Tormanns beim Elfmeter", die die Torhüter, die Hüter des Kastens, die Wahrer der Unbeflecktheit der weißen Weste, antreibt und in seltenen Momenten dazu führt, dass sich die Perspiration der körperlichen Arbeit mit dem Angstschweiß verbündet.
"Und du bist der Arsch": Oliver Kahn über die Faszination Torwart
Es ist die Angst des Torwarts vor dem Gegentor, gar dem Fehler – und die Angst, der Arsch zu sein. "Im Tor kann alles passieren, da können sich in Bruchteilen Welten verändern. Es ist so extrem, wenn der Ball im Netz ist. Die Mitspieler wenden sich alle von dir ab, drehen dir den Rücken zu – weil sie ja wieder zum Anstoß müssen – die Menge jubelt. Und du, du bist der Arsch", beschreibt Oliver Kahn seinen Job in der Dokumentation "Oliver Kahn – Liebe zum Fußball".
Wer ist schon gerne der Arsch? Und ja, manchmal muss man, um nicht der Arsch zu sein, ein Arsch sein. Torhüter ticken schon immer anders. Sie sind die Einzelkämpfer in einem Mannschaftssport, die Männer unter dem großen Brennglas.
Unzählige Titel – und Patzer auf größter Bahn: Oliver Kahn im Auf und Ab des Fußballs
Ihre Fehler sieht jeder, sie bekommen keine zweite Chance auf den ersten Eindruck. Und Kahn war der Beste dieser speziellen Gattung Fußballer, Gattung Mensch: Europameister (ohne Einsatz), Champions-League-Sieger, Vize-Weltmeister, Uefa-Cup-Sieger, acht Mal Meister, sechs Mal Pokalsieger, dreimaliger Welttorhüter, viermaliger Uefa-Torhüter des Jahres, Zweiter bei der Wahl des Weltfußballers, bester Spieler und Torwart der WM 2002.
Kahn ist der Titan, Vul-Kahn, der Verrückte, der Mitspieler rumschubst, Gegenspieler anknabbert. Aber er ist auch der Mann, der nach dem WM-Finale 2002, bei dem ihm im Endspiel der einzige Fehler des Turniers, bei dem er so unmenschlich gehalten hat, unterläuft und so Deutschland aller Titelchancen gegen Brasilien beraubt, wie das berühmte Häufchen Elend am Pfosten sitzt. Ja, ein Titan kann brechen, zum Mensch werden – vom Unsterblichen zum Sterblichen.
Die Anfänge des Oliver Kahn: Als Feldspieler völlig ungeeignet
Der Weg dorthin beginnt in Karlsruhe, dieser mit etwa 300.000 Einwohner drittgrößten Stadt in Baden-Württemberg. Hier kommt am 15. Juni 1969 Oliver Rolf Kahn als Sohn von Rolf, der in Lettland geboren wurde, und Monika zur Welt. Papa Rolf und Olivers vier Jahre älterer Bruder Axel, haben beide beim Karlsruher SC Fußball gespielt und so ist der Weg für Klein-Oli vorgezeichnet.
Als Sechsjähriger tritt er dem KSC bei. Er versucht sich als Feldspieler, aber wer erlebt hat, wie angsterfülltes Raunen der eigenen Fans das Stadion erfüllt, sobald Kahn das Spielgerät mit den Füßen und nicht den Händen berühren muss, weiß, dass keiner über Kahn reden würde, hätte ihn nicht das Schicksal ins Tor befördert.
Ein Torwart-Trikot zum Geburtstag ebnet den Weg
Die Großeltern schenken ihm zum Geburtstag ein Torwart-Trikot aus der Sepp-Maier-Edition. Den Kult-Keeper des FC Bayern bewundert Kahn und wird Torhüter. Auch im Tor ist Kahn nicht der Talentierteste. Es ist nicht so, dass ihm die Bälle zufliegen, aber er liebt es, in den Matsch zu fliegen, sich als Held der Spiele zu visualisieren.
Und was Kahn liebt, das verfolgt er. Mit Ehrgeiz, Willenskraft – ja, fast mit Besessenheit. So sehr Vater Rolf seinen Sohn fördert, so sehr fordert der Sohn den Papa. Aufs Spielfeld. Sechs Tage sollst du arbeiten, aber am siebten Tag sollst du ruhen, heißt es im Alten Testament. Nicht so im Hause Kahn. Auch sonntags muss der Papa mit Oli trainieren.
Oliver Kahns mühsamer Weg an die Spitze: "Habe stets Beharrlichkeit gebraucht"
"Eines Tages waren die Plätze komplett überflutet. Keiner konnte trainieren. Aber ich wollte unbedingt", schreibt Kahn in seinem Buch "Ich, Erfolg kommt von Innen": "Der Platzwart kam und brachte mir ein paar deftige neue Flüche bei. Mich interessierte wenig, was er sagte. Wir ließen uns nicht vertreiben."
Kahn lässt sich nie vertreiben, er ist ein Getriebener. Aus sich selbst heraus. "Ich habe viele Talente erlebt, die aber gnadenlos gescheitert sind. Die waren in der Jugendzeit immer besser als ich, aber sie scheiterten permanent. Talent ist eine Gabe, aber sie nützt nichts, wenn du nicht hart arbeitest", sagt Kahn: "Der Beste zu werden war für mich eine Marathon-Aufgabe. Ich habe lange gebraucht, so war es immer in meinem Leben. Ich habe stets Beharrlichkeit gebraucht, um meine Ziele zu erreichen. Das ist für mich normal."
Erfolg trotz Misserfolg
Kahns unglaubliche Erfolgsgeschichte ist auch eine Aneinanderreihung von Misserfolgen. Aber scheinbares Versagen war für ihn nie Grund aufzugeben, sondern zu analysieren, an sich zu arbeiten, sich zu verbessern. Mit 15 scheidet er aus der Kreisauswahl Karlsruhe aus, weil er zu klein und körperlich schwach ist.
Mit 16 wird er in die B3-Jugend degradiert, wie er es nennt, weil man ein "Supertalent" geholt hat. Mit 17 kommt er in die A2, weil er "nicht gut genug" für die A1 ist. Bei seinem ersten Bundesliga-Spiel kassiert er vier Buden. All das ist Ansporn. Immer schon.
Inspiration fürs eigene Spiel: Lernen von den KSC-Profis
Als Kind schaut er den Profis beim KSC zu. Nicht nur wegen der Freude am Spiel, er schaut sich was ab. Was machen die anders, was besser? Wenn die Profis spielen, trainiert er für sich auf den Nebenplätzen. Denn in seinem Kopf ist das "sein großes Spiel" der aufbrandende Jubel gilt ihm. "Dann habe ich bewusst den Beifall einkassiert. Ich liebte es, mir vorzustellen, das Jubeln gelte mir", sagt Kahn.
Ohne, dass er es damals weiß, Kahn hat begonnen zu visualisieren. Er lebt in seiner Welt, setzt sich Ziele. Das große Ziel: Der beste Torhüter der Welt zu werden. Davor kleine, erreichbare Zwischenetappen. Aufgaben, die man schaffen kann, damit man motiviert die nächste angeht. "Es zu den Profis schaffen, Stammtorwart beim KSC werden – zum FC Bayern wechseln und Meister werden – Nationaltorhüter werden – bester Torwart der Welt werden", führt Kahn in seinem Buch aus.
Außen weich, innen hart: Oliver Kahn war schon früh ein Einzelgänger
Kahns Dreiklang: Wer etwas müssen kann, muss es erst können können. Und können kann man, wenn man es will. Der Wille, das ist die Wurzel seines Könnens, seines Erfolges. Das macht einen nicht unbedingt beliebt, es macht einen oft zum Außenseiter – ja, zum Arsch.
Sein ehemaliger Sportlehrer Bernd Schietinger am Helmholtzgymnasium in Karlsruhe erzählt 2008 in der "Welt" über den jungen Kahn mit seinen fast weißblonden Haaren und dem Babyspeck, der äußerlich weich wirkt, aber doch so hart ist: "Ich nahm ihn wahr, weil er im Schulhof immer separat war. Beliebt in der Mannschaft war er aber nicht. Als die anderen nach einem Spiel feiern gingen, ging er gleich weg. Er war – wie auf dem Schulhof – ein Einzelgänger."
Keine Zeit für Disco und Mädels
Am Ende fliegt Kahn aus der Schulmannschaft, weil ihm das Training beim KSC wichtiger ist. Kahn ist einer, den man gerne in seinem Team hat, aber nicht unbedingt als Freund. Andere haben Ablenkungen wie Disco, Partys, Alkohol, Mädels – Kahn hat Ziele, seine Besessenheit, seine unglaubliche Fähigkeit, sich zu konzentrieren, zu fokussieren, gnadenlos gegen andere zu sein – aber noch viel mehr und vor allem – gegen sich selbst.

Zu seiner Zeit beim KSC hängt er sich das Bild von Alexander Famulla, der die Nummer 1 ist, an die Wand. "Ich sagte mir, das ist mein Feind, den musst du besiegen." Nun, Famulla spielt eine grandiose Saison und Kahn nimmt das Bild wieder ab. Hass, Feindschaft, ist nur Gift für die Seele, kein Weg zum Erfolg. Auch das analysiert Kahn genau. Sein Weg ist schwer, aber er beißt sich durch.
Unbarmherzige Begrüßung bei den KSC-Profis: Vom Mitspielern angepinkelt
Doch seine Verbissenheit kommt bei den Etablierten nicht gut an. "Nicht selten wurde ich von den älteren Spielern übel beschimpft. 'Hau wieder ab, wo du hergekommen bist', war noch das netteste", erinnert sich Kahn. Nett ist damals kaum etwas. Eher eklig. Mit 18 kommt er zu den Profis. Er duscht sich nach einem Trainingstag kalt ab, als er plötzlich spürt, wie es an seinem Bein warm wird.
"Erschrocken riss ich die Augen auf: Einer der Spieler hatte sich in die Dusche neben mich gestellt – und damit begonnen, mich im hohen Bogen anzupinkeln!" Eine wenig subtile, mehr als unappetitliche Art "verpiss dich" zu sagen.

Es ist ein täglicher Spießrutenlauf. Die Altgedienten wollen ihn fertigmachen, demoralisieren – aber da haben sie die Rechnung ohne den Kahn gemacht. Widerstand fordert ihn nur heraus, noch mehr aus sich herauszuholen.
Famullas Angst vor Oliver Kahn und die große Chance 1990
Am 10. November 1990 kommt seine große Chance, Trainer Winfried Schäfer wechselt ihm gegen Bochum in der Halbzeit beim Stand von 1:2 für Famulla ein. Der KSC gewinnt 3:2 und Kahn verlässt das Tor nie wieder. 153-mal spielt er für den KSC, kassiert 194 Gegentore. Mit ihm im Tor wird der KSC 92/93 und 93/94 Sechster in der Liga. Die besten Platzierungen der Klubgeschichte.
Auch und wegen Kahn, der Famulla weggebissen hat. Unvergessen und bezeichnend die Anekdote, die der damalige Ersatzkeeper Stefan Wimmer erzählt: "Jeder, der Handschuhe anhatte, war für Oli ein Feind. Vielleicht war ich talentierter. Er war sicher härter. Und Famulla wollte im Trainingslager nie in einem Zimmer mit Kahn schlafen, er hatte Angst, dass ihm Kahn mitten in der Nacht das Kopfkissen ins Gesicht drückt."
Oliver Kahn in den frühen 90ern: Noch lebt er nicht im Tunnel
Kahn war eben schon ganz Kahn, aber eben doch anders. Er ist unbedarfter, hat die große Welt noch nicht für sich entdeckt, er ist mit seiner Jugendfreundin Simone glücklich, trägt Vokuhila, fährt ein Auto das mit dem Karlsruher Kennzeichen KA - HN beginnt. Er ist noch nicht der Titan, der bei Interviews am Fragenden vorbeischaut, der die Luft bei jeder Antwort durch die Zähne ziehen und quetschen muss, als bereite ihm jedes Wort körperliche Qualen. Er lebt noch nicht im Tunnel.
Das kommt erst 1994, als er wieder eines seiner Ziele abhaken kann. Denn da holt ihn Uli Hoeneß für eine Ablöse von 4,5 Millionen zum FC Bayern. Aber das ist eine andere Geschichte, die Sie im nächsten Teil der AZ-Serie lesen.