FC Bayern: Einer der letzten Besuche bei "Kaiser" Franz Beckenbauer – AZ-Legende Hartmut Scherzer nimmt Abschied

60 Jahre lang hat Hartmut Scherzer, der legendäre AZ-Reporter, Franz Beckenbauer begleitet. Ein ganz persönlicher Abschied.
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Eines der letzten Treffen zweier enger Freunde: AZ-Reporter Hartmut Scherzer (l.) und Franz Beckenbauer im Jahre 2020.
Eines der letzten Treffen zweier enger Freunde: AZ-Reporter Hartmut Scherzer (l.) und Franz Beckenbauer im Jahre 2020. © Joachim Storch

München - Es ist der 19. Mai 2022 vormittags in Sevilla. Eintracht Frankfurt hat am Vorabend das Finale der Europa League gewonnen. Kein Netz in der überfüllten Abflughalle, um den Bericht zu übermitteln. Mitten im Übertragungsstress klingelt mein Handy. Anrufer: Franz B. "Servus Hartmut, Gratulation zum Europapokalsieg."

"Aber ich habe doch nicht gespielt. Franz, ich bin gerade mitten im Übertragungsstress. Ich rufe zurück." – "Ich rufe an, weil ich weiß, wie du an der Eintracht hängst. Ich wusste nicht, dass die Frankfurter so gut Fußball spielen können. Servus."

Besuch bei Franz Beckenbauer im Juni 2022 in Salzburg

Servus, muss nun auch ich sagen. Unsere Freundschaft hatte sich im letzten Jahrzehnt vertieft. Wir hielten Kontakt über Telefonate hinaus. Franz kam zu meiner Buch-Präsentation im Corona-Herbst 2020 nach Frankfurt. Ich habe ihn im Juni 2022 in seinem Haus in Salzburg besucht. Zum Jubiläum "33 Jahre WM '90" am ersten Juli-Wochenende 2023 im Chiemgau wurde ich als einer von zwei Journalisten eingeladen. Die gesundheitlich angeschlagene Ikone kam leider nicht. Heidi Beckenbauer entschuldigte ihren Mann vor den nahezu vollzählig angereisten 90er-Weltmeistern mit der extremen Hitze. Jeder bedauerte zutiefst das Fehlen des geliebten und verehrten Teamchefs, "ohne den wir nicht Weltmeister geworden wären" (Lothar Matthäus). Die Antwort auf den App-Dank nach dem dennoch fröhlichen Wiedersehensfest: "…Lieber Gruß auch von Franz an Dich. Heidi."

Mit dieser Hommage aus ganz persönlicher Perspektive gebe ich bewusst die journalistische Distanz auf. Ich bin der Ansicht, dass ich mir das bei zwei außergewöhnlichen Persönlichkeiten gestatten darf, die mir in den über sechzig Jahren meiner journalistischen Laufbahn bis zu ihrem Tod immer wieder begegnet sind: Beckenbauer und Ali.

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Es bleibt ein Trost. In seinem Buch "The King's Two Bodies" schreibt der Historiker Ernst Kanotorowicz: "Der König. . ." - also auch der Kaiser - " . . .hat zwei Körper. Einen sterblichen und einen unsterblichen. Der eine vergeht mit seiner irdischen Existenz, der andere ist ewig." Ein gewisser Trost. Denn die Erinnerungen an all unsere Begegnungen werden bleiben. Denn "die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können." (Jean Paul).

In meinem Büro hängt ein spektakuläres Plakat: "Franz Beckenbauer's Farewell Game. COSMOS with special guest player Pelé vs. NASL select team. September 24, 9:00 P.M. Giants Stadium – The Meadowlands."

Es fehlt die Jahresangabe 1980. Das Poster hält die ganze Eleganz des Weltstars in zwei Vierer-Bildstafetten fest: Einmal von vorn die geschmeidige Ballführung, einmal von der Seite die perfekte Schusstechnik. Die Widmung darauf Jahre später: "Meinem lieben Freund Hartmut in alter Verbundenheit." Signatur. 23.10.93.

Weltmeister als Spieler (1974), als Trainer (1990) und der Mann hinter dem WM-Sommermärchen 2006: Franz Beckenbauer († 78).
Weltmeister als Spieler (1974), als Trainer (1990) und der Mann hinter dem WM-Sommermärchen 2006: Franz Beckenbauer († 78). © Stefan Matzke / sampics

Beckenbauers Abschiedsspiel 1980 in New York und Muhammad Alis Comeback binnen weniger Tage

Mit meinem deutschen Presseausweis hatte ich es geschafft, im Stadion bis zu Franz Beckenbauer im Massageraum durchzukommen. Er lag vor dem Spiel auf einer Pritsche und wurde gepflegt. Bass erstaunt fragte er: "Ja, was machst du denn hier?" Ich würde lügen, nur wegen seines Abschiedsspiels nach New York geflogen zu sein. Eine Woche später versuchte Muhammad Ali in Las Vegas gegen Larry Holmes ein Comeback.

Der Kaiser und der Größte, die Ikonen meines Journalisten-Lebens, innerhalb einer Woche noch einmal auf dem Platz beziehungsweise im Ring zu erleben, waren wahrhaftig eine Amerika-Reise wert. Beide spürten das nahende Ende ihrer ruhmreichen Karriere. Alis Rückkehr mit 38 Jahren scheiterte. Beckenbauer hingegen wurde nach vier Titeln mit dem FC Bayern bei seinem Comeback in der Bundesliga mit dem Hamburger SV im Alter von 36 Jahren 1982 nochmal Meister.

Einmal eingefangen von seiner Aura, zählte ich mich im weitesten Sinn zum Gefolge des Fußballkaisers. Über fünfzig Jahre lang, seit seinem Debüt in der Nationalmannschaft am 26. September 1965 im entscheidenden WM-Qualifikationsspiel gegen Schweden (2:1) in Stockholm.

Das erste brillante Länderspiel, dem 102 weitere folgen sollten. Sein auf der Welt einzigartiges Triple, Weltmeister als Spieler, Weltmeister als Teamchef, Organisationschef einer Weltmeisterschaft – alles habe ich miterlebt.

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Neben Beckenbauer nach dem verlorenen Wembley-Finale auf der Bank

Das waren damals Zeiten und Beziehungen, wie sie heute nicht mehr möglich, ja nicht einmal vorstellbar sind. Ich, der Weltagentur-Journalist (UPI), durfte bei der WM 1966 nach den Spielen die Kabine betreten, saß nach dem so unglücklich verlorenen Finale gegen England (Wembley-Tor!) neben dem erst 20-jährigen und schüchternen Beckenbauer auf einer Bank. Bundestrainer Helmut Schön hatte das Supertalent auf den englischen Spielstrategen angesetzt. "Dieses Duell hat Spaß gemacht, und ich habe den Eindruck, dass ich nicht schlecht abgeschnitten habe. Bobby Charlton ist ein ausgezeichneter Fußballer. Und immer fair", sagte Beckenbauer leise.

Dem Teamchef-Weltmeister, dem Imperator Roms, bin ich 1990/91 nach Frankreich gefolgt, zu einer Art Tour de France Football. "Le Kaiser" sollte – wie dreimal als Spieler mit Bayern – den Europapokal der Landesmeister erstmals in die "Grande Nation" holen, mit Olympique Marseille. Neben Bundesliga-Städten standen fortan auch Marseille, Monte Carlo oder Auxerre in meinem Termin-Kalender.

Die Spiele gaben immer eine exklusive Story her. Aus Wut über eine 0:4-Klatsche in Auxerre warf Beckenbauer einen Monsieur im Anzug und mit Krawatte aus der Kabine. "Franz, du hast eben den Bürgermeister von Auxerre aus der Kabine gewiesen, der dich begrüßen wollte", klärte ich ihn auf. "Woher soll ich den kennen? Ich habe ihn für einen Journalisten gehalten, und die haben bei mir nach dem Spiel in der Kabine nichts zu suchen."

Im Endspiel des Europacups am 29. Mai 1991 in Bari gegen den Bayern-Bezwinger Roter Stern Belgrad zerstörte nach einem trostlosen 0:0 Manuel Amaros die Siegerattitüde der deutschen Legende. Der Verteidiger verschoss den ersten Elfmeter. Endstand 3:5 gegen Franz Beckenbauer.

Sommermärchen-Prozess: Beckenbauer offenbarte tiefe Betroffenheit und heiligen Zorn auf den "Spiegel"

Adieu Marseille. Schon im Dezember 1990 hatte er mir beim Frühstück im Hotel in Troyes anvertraut, er werde hier "so schnell wie möglich aufhören". Wie bei jedem Gespräch konnte er sich auf Vertraulichkeit verlassen: "Du, des is fei nix zum Schreibm."

Wie am 29. Februar 2016 beim Medienspektakel "Gute Freunde" des Hoffenheim-Milliardärs Dietmar Hopp im Mannheimer "Palazzo". Vor Beginn der Veranstaltung offenbarte mir Beckenbauer an einem Stehtisch unter vier Augen seine tiefe Betroffenheit und seinen heiligen Zorn auf den "Spiegel". Der sogenannte Sommermärchen-Prozess in der Schweiz, in dem Franz Beckenbauer als einziger aus gesundheitlichen Gründen noch nicht angeklagt war, verjährte am 27. April 2020.

Sein Charme war umwerfend, seine Nonchalance beneidenswert. Über Nacht knipste "Der Spiegel" die Strahlkraft der Lichtgestalt aus. Mit der Titelgeschichte "Das zerstörte Sommermärchen" im Oktober 2015 über die mutmaßlich gekaufte WM 2006 begann die Demontage des Denkmals. Das Glück hatte sich von seinem Günstling abgewendet. Nach einem halben Jahrhundert.

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Schwere menschliche Schicksalsschläge für Franz Beckenbauer

Menschliche Schicksalsschläge kamen hinzu. Beckenbauers Sohn Stephan, Bundesliga-Profi und zuletzt Jugendtrainer beim FC Bayern, starb im Juli 2015 mit 46 Jahren an einem Hirntumor. Franz musste im September 2016 und im November 2017 zwei Herzoperationen ertragen. Er war da 72 Jahre alt.

Der Kaiser dankte sozusagen ab und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Die Familie mit seiner dritten Ehefrau Heidi und den Kindern Joel und Francesca war in Salzburg sein Lebensinhalt geworden. Die aufregenden journalistischen Jahrzehnte mit ihm und die Erinnerung daran sind ein Geschenk des Himmels. Das "Sommermärchen zerstört"? Unsinn! Die Partylaune der Fans aus aller Welt in den Stadien und beim Public Viewing, das extrem schöne Wetter, die spannenden Spiele hatten dieses märchenhafte Fußballfest hingezaubert.

Wer dabei war, hatte die Wonnewochen genossen, wird sie nie vergessen und sich vielleicht sogar den Teufel darum scheren, ob es bei der Vergabe der WM an Deutschland durch eine korrupte Fifa korrekt zuging. Beckenbauer gebührt Dank für dieses einzigartige Sommerfest. Und für eine glanzvolle Epoche des deutschen Fußballs. Servus, Franz.

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