Eine Woche Carlo: Kulturschock für die Stars

Alles anders unter Ancelotti: Bayerns neuer Trainer lässt auch ohne Ball üben, unterbricht seltener. Von Training über Taktik und Ausstrahlung: So unterscheidet sich der Italiener von Pep.
München - In vino veritas, im Wein liegt die Wahrheit. Sogar im Fußball gilt dieser Spruch, das ist seit Freitagmittag klar. Carlo Ancelotti sitzt auf dem Podium im kleinen Presseraum an der Säbener Straße, und er hat die Frage natürlich erwartet.
Weiß, rot – oder doch ein gutes Münchner Bier, Mister? Ancelotti grinst, er ist ohnehin ziemlich gut gelaunt, seitdem er vor wenigen Minuten den Raum betreten hat mit einem freundlichen "Guten Tag, wie geht’s?". Allein schon das unterscheidet ihn von Vorgänger Pep Guardiola, für den Gespräche mit Journalisten nervige Pflicht sind. Nach kurzer Überlegung sagt Ancelotti in fast akzentfreiem Deutsch: "Rotwein."
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In vino veritas – wann hat der Spruch besser gepasst als in diesen Tagen beim FC Bayern? Seit Montag hat Ancelotti, 57, das Sagen beim Münchner Klub. Und die Unterschiede zu Guardiola sind schon jetzt gut zu erkennen. Nicht nur beim Wein, den der Katalane lieber weiß trinkt.
Was Ancelotti bei den Bayern verändert – und wie die Spieler darauf reagieren: Die AZ gibt einen Überblick.
Das Training
Juan Bernat und Rafinha schauten sich während der Einheit am Donnerstag an, sie lachten und tuschelten. Ernsthaft? Hürdenlauf mit einer Stange über den Kopf gestreckt? Und überhaupt: Wo ist hier der Ball? Diese oder ähnliche Fragen dürften sich die Bayern-Stars in der ersten Trainingswoche gestellt haben. "Die Trainingsabläufe sind ganz anders als unter Guardiola", sagte Holger Badstuber. Ein kleiner Kulturschock ist dieser Übergang von Pep zu Carlo ganz sicher – aber einer, der begrüßt wird: "Es gibt neue Spielformen und damit auch neue Impulse, die uns nicht schaden. Man ist ein bisschen wacher im Training, weil es einfach etwas Neues ist", erklärte Philipp Lahm.
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Schon beim Aufwärmen ist vieles anders. Ancelotti setzt auf ein klassisches Programm mit Laufübungen, Athletik- und Koordinationstraining. "Rondo", das Kreisspiel, das unter Guardiola zu jeder Einheit gehörte und oft 30 Minuten oder länger gespielt wurde, stand erst im Freitagstraining erstmals auf dem Programm. "Es gibt eben jetzt andere Positionsspiele", sagte Lahm.
Bei diesen lässt Ancelotti seine Stars erstmal machen. Anders als Guardiola unterbricht er nicht ständig, er wartet bis zu den Pausen, dann beginnt er die Fehleranalyse, spricht ruhig, aber bestimmt mit den Spielern. Trotz seiner zurückhaltenden Herangehensweise ist Ancelotti mittendrin. Er bewegt sich wie ein Schiedsrichter auf dem Feld, pfeift Abseitsstellungen ab, dirigiert die Viererkette, als würde er selbst noch mitspielen. Wie früher im Mittelfeld des AC Mailand.
Die Taktik
Milan und vor allem sein damaliger Trainer Arrigo Sacchi haben Ancelotti geprägt und beeinflussen die taktische Ausrichtung des Bayern-Trainers bis heute. Das Konterspiel, die Idee des schnellen und dynamischen Fußballs hat Ancelotti von Sacchi übernommen, man wird sie auch bei Bayern wiederfinden.
Er wolle an Guardiolas Ausrichtung anknüpfen, "Angriffsfußball" spielen lassen, sagte Ancelotti bei seiner Vorstellung in der Allianz Arena. Nur wird das auf ganz andere Art und Weise passieren. Guardiolas Vorbild war immer Johan Cruyff und dessen Ballbesitzspiel. Pep unterteilte das Spielfeld in verschiedene Zonen, seine Spieler mussten auch offensiv sehr diszipliniert agieren. "Wir sind sehr gut damit gefahren, wie wir gespielt haben", sagte Lahm.
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Ancelotti lässt seinen Stars im Angriff mehr Freiheiten, defensiv vertritt er indes einen konservativeren Stil als Guardiola. Experimente mit abkippenden Außenverteidigern gibt es nicht, "Carletto" vertraut einer klassischen Viererkette und einem kompakten Mittelfeld mit drei zentralen Akteuren wie bei Real Madrid. Dort ließ er meist im 4-3-3-System spielen, auch das 4-4-2 mit zwei Mittelstürmern (Robert Lewandowski und Thomas Müller) ist denkbar. "Aber die Taktik ist nicht das Wichtigste, das ist der Teamgeist", sagte er am Freitag.
Die Ausstrahlung
An diesem Samstag beim Testspiel in Lippstadt (17 Uhr, live auf Sport1) steht Ancelotti zum ersten Mal als Bayern-Trainer an der Linie. "Es war eine gute Trainingswoche, die Spieler waren sehr konzentriert, ich bin glücklich", sagte der Coach. Und seine Stars gaben das Lob zurück. "Er strahlt sehr viel Ruhe aus, man spürt seine Aura. Er wird uns sehr guttun", sagte Badstuber. Lahm berichtete von einem "sehr angenehmen Gespräch mit Carlo, da haben wir unsere Gedanken ausgetauscht, nicht nur über Fußball, sondern zum Beispiel auch übers Essen“"
Ja, das geht mit diesem Trainer eben auch: über die angenehmen Seiten des Lebens sprechen. Er habe schon gesehen, wie schön München sei, und natürlich muss ich auch essen und trinken. Gerne einen Wein. Aber rot – und nicht weiß.