Comeback von Thomas Müller: Späte Löw-Entscheidung droht sich jetzt zu rächen
München - Tja, was sollte er auch sagen? "Wir werden das nächste Spiel angehen", versprach Joachim Löw, "und gewinnen". Das klang selbstüberzeugt und war auch so gemeint vom Bundestrainer, bloß bestehen trotz hoffnungsvoller Ansätze so manche Zweifel an der Umsetzbarkeit.
"Weltmeister Frankreich hat Deutschland die Grenzen aufgezeigt", insistierte Lothar Matthäus via Deutsche Presse-Agentur. Die DFB-Elf sei bemüht gewesen, gewiss, "aber manches hat mich bei denen an 2018 erinnert". Damals scheiterte Löws Auswahl blamabel in der WM-Vorrunde. Trainer-Legende Ewald Lienen hatte ähnliche Assoziationen.
Mit dem 0:1 zum EM-Start 2021 schoss Deutschland bei den vorangegangenen sechs Auftritten in Welt- und Europameisterschaften lediglich drei Tore. Eines in 120 Minuten gegen Italien 2016, zwei gegen Schweden 2018. Indes hielten sich Mexiko, Südkorea und zweimal Frankreich schadlos, was ein bemerkenswerter und - für alle Pessimisten - durchaus bedenklicher Trend ist.
Deutsche Nationalmannschaft in der Offensive wirkungslos
Es gibt zwei Probleme, und Löw kennt sie spätestens, seitdem ihm der ewige Miroslav Klose abhandenkam. Das erste Problem: Torchancen haben und sie vergeben. Das zweite: kaum bis gar keine Torchancen kreieren.
Letzteres war am Dienstagabend in München der Fall, nicht nur Joshua Kimmich rekapitulierte eine Dominanz ohne Ertrag. Löw sprach "keinen Vorwurf" aus, dabei gäbe es bei genauerer Beurteilung durchaus eine Mängelliste, und vieles davon konzentrierte sich auf die Offensive.
Löw machte "Durchschlagskraft im letzten Drittel" als Ursache für mäßig loderndes Strohfeuer im Franzosen-Strafraum aus. Vorne fehlte durch die Absenz eines Mittelstürmers (Klose ist heute 43) irgendwie von allem etwas: Überzeugung, Präzision, Feinabstimmung, letztlich Klasse. Und die Standardsituationen verpufften kläglich.
Müller-Rückkehr in der DFB-Elf: Rächt sich Löws später Entschluss?
Das Frankreich-Spiel deutete an, dass sich Löws Entschluss, sein Team um die Rückkehrer Thomas Müller und Mats Hummels erst in der ultimativen EM-Vorbereitung zusammenzubauen, im Turnier zu rächen droht. Zweieinhalb Wochen Zeit für Anpassungen und Automatismen waren knapp bemessen.
Bayern-Profi Müller, in den beiden Tests gegen Dänemark (1:1) und Lettland (7:1) noch meinungs- wie leistungsstark, blieb im Duell mit Großkaliber Frankreich wirkungslos, ohne wesentliche Akzente und Impulse.
Die Kombinationen mit der Dreierreihe um Serge Gnabry und Kai Havertz, mit den außen nachrückenden Robin Gosens und Kimmich, mit der Zentrale um Toni Kroos und Ilkay Gündogan - es knirschte an sensiblen Schraubstellen, die für eine EM-Unternehmung unerlässlich sind. Deutschland spielte gut, aber eben nicht sehr gut, und das reichte nicht. Kollektiv produzierten die Individualisten wenig Vorzeigbares.
Löw hatte Müller erst nach der Bundesligasaison reaktiviert, um ihn ad hoc zur Stammkraft zu befördern (was natürlich sinnig ist). Es wird eine nie beleg- oder widerlegbare These bleiben, aber die Frage, ob ein Müller-Comeback zu den drei März-Länderspielen das massiv vorhandene Offensivpotential nicht besser entfaltet hätte, muss sich Löw schon gefallen lassen. Sprich: Üben unter Praxisbedingungen.
Matthäus rät Löw zu Systemwechsel: "Müssen offensiver spielen"
Oft schienen sich die Freigeister Müller und Havertz eher zu blockieren denn zu stimulieren. Das Besetzen von Räumen, das Übergeben und Übernehmen, dieses Intuitive, von dem der Intelligenzspieler Müller immer gezehrt hat - das lag einigermaßen brach. Jammerschade ist das, weil auf dem Papier gerade Müller und Havertz prädestiniert sind, ihre grundverschiedenen Stile zusammenzuführen, um Wucht zu generieren.
Nach Matthäus' Ansicht sollte Löw für die weiteren Gruppen(end)spiele über einen Systemwechsel nachdenken, vom 3-4-3 zurück zum 4-2-3-1 und womöglich mit Leroy Sané statt Havertz.
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