"Bemerkenswerte Veränderung": Elfmeter-Experte analysiert Harry Kanes irre Strafstoß-Serie für den FC Bayern
AZ: Herr Jordet, als Sportpsychologe widmen Sie sich seit über 20 Jahren dem Thema Elfmeter und forschen zur psychologischen Komponente der Eins-gegen-Eins-Situation zwischen Schütze und Torwart. Harry Kane hat bei Bayerns 1:0 in Mönchengladbach seinen 26. Strafstoß in Serie verwandelt. Was ist Kanes Geheimnis?
GEIR JORDET: Da muss ich etwas ausholen. An erster Stelle steht natürlich die Technik, die Art und Weise, wie er den Ball trifft. Exakt, scharf, hart. Zweitens ist da Kanes Pre-Shot-Routine wie man auf Englisch sagt. Dahinter steckt eine punktgenaue Systematik, um sicherzustellen, dass sein voller Fokus auf diesem Schuss liegt. Er legt den Ball hin, macht ein paar Schritte zurück, schaut ein Mal auf, atmet zwei Mal tief ein und aus, fokussiert den Ball während er sich mit dem Oberkörper nach vorne beugt. Er läuft mit Trippelschritten an und schießt. Faszinierend.
In Gladbach hat er Torhüter Moritz Nicolas ausgeguckt. Er hat abgewartet, wohin sich der Torwart bewegt, den Ball dann in die andere Ecke geschoben.
Ja, und das ist sehr speziell. Ich will es erklären: Ich habe jeden einzelnen Elfmeter von Harry Kane seit 2012 auf Video gesehen und analysiert. Das waren rund 80, 90 Strafstöße, in meinem Buch habe ich eine Studie dazu drin. Kane macht ab etwa 2014, 2015 exakt dasselbe – mit einer bemerkenswerten Veränderung. Als die Bayern letztes Jahr im April im Champions-League-Hinspiel beim FC Arsenal einen Elfmeter bekamen, hat er die Art und Weise den Elfmeter auszuführen, urplötzlich geändert. Also seine Routine. Als ich den Schuss in einem Pub in Oslo gesehen habe, bin ich vor lauter Aufregung schon aufgesprungen bevor der Ball im Tor war. Der große Unterschied: Früher hat Kane eine Technik angewandt, die völlig unabhängig vom Keeper war. Er nahm sich eine Ecke vor, ein satter Schuss – rein damit. Gegen Arsenal wandte er eine Technik an, die vom Torhüter abhängt. Er lässt ihn den ersten Schritt machen. Bewegt dieser sich, schiebt er den Ball in die andere Ecke. Wie es Robert Lewandowski seit über eine Dekade gemacht hat. Seitdem hat Kane acht Elfmeter mit der neuen Technik geschossen, sieben mit der alten.
Kane zuletzt im WM-Viertelfinale 2022 einen Elfmeter verschossen
Nun variiert er.
Das ist die Weiterentwicklung. Er hat gelernt, ist unberechenbarer geworden. Das ist seine Evolution als Elfmeterschütze.
Als "Elfmetermaschine", wie ihn Bayerns Vorstandsboss Max Eberl nennt.
Nun ja, man darf nicht vergessen: Kane ist immer noch ein Mensch. Siehe seinen verschossenen Elfmeter für England im Viertelfinale der WM 2022 in Katar gegen Frankreich. England verlor 1:2.
Elfmeter-Experte über den Bayern-Star: "Aktuell ist Kane der beste Kane überhaupt"
Apropos Harry, der Mensch: Steigt denn die Wahrscheinlichkeit nach 26 verwandelten Elfmetern in Serie, dass er die Nummer 27, 28 oder 29 verschießt? Weil sich der Druck erhöht nach dem Motto "Irgendwann muss er doch mal..."
Nein, aus meiner Sicht wird der Druck von Erfolgserlebnis zu Erfolgserlebnis geringer. Er wird sicherer und sicherer, ist immer mehr von seinen Fähigkeiten und seiner Elfmeter-Routine überzeugt, daher kommt die mentale Stärke. Ich würde behaupten: Aktuell ist Kane der beste Kane überhaupt was seine Elfmeter betrifft. Daher denke ich, dass die Statistik ihm keinen extra Druck macht – obwohl jeder von ihm erwartet, dass er trifft. Und wenn er ein Mal nicht trifft, war es nur ein Mal. Beim zweiten oder dritten Mal wird man sagen: Was ist mit Kane los? Hat er es verloren?
Von welchen Faktoren hängt denn der Druck auf den Schützen ab?
Von der Wichtigkeit des Spiels, vom Moment im Spiel, vom Spielstand. Das Event spielt eine Rolle, der Gegner, das Stadion. Im Idealfall kann sich der Schütze davon unabhängig machen, weil er sich nur auf seine Abläufe, auf seine Routine konzentriert.
Richtige Atmung beruhigt den Schützen beim Elfmeter
Wie wichtig ist die richtige Atmung?
Sehr! Es hat einen direkten Effekt. Die Forschung hat ergeben, dass die Atmung Hormone im Körper stimuliert, die für die Entspannung verantwortlich sind. Es ist physisch, konkret. Es beruhigt den Schützen, lenkt die Gedanken weg von den möglichen Konsequenzen eines Fehlschusses. Das macht Lewandowski auch – ebenso andere Top-Stars im Tennis oder beim Golf.
Der Yoga-Moment im Anlauf.
Ja, das gefällt mir. (lacht) Aber wissen Sie, was bei Lewandowski so bemerkenswert ist. Er hat seine Technik auch umgestellt, aber genau umgekehrt wie Kane. Nun entscheidet er sich oft vorher für eine Ecke und schiebt nicht nach Blickkontakt mit dem Torhüter. Dies zu variieren, das zeichnet Weltklasse-Fußballer aus.
Messi und Ronaldo zählen nicht mehr zu den besten Elfmeter-Schützen
Wer sind aktuell die besten Elfmeter-Schützen der Welt?
Offensichtlich Kane und Lewandowski plus Ivan Toney, der im Sommer vom FC Brentford in die saudi-arabische Liga gewechselt ist. Er hat beim gewonnenen Elfmeterschießen der Engländer im EM-Viertelfinale gegen die Schweiz getroffen.
Eine Rarität. Und was ist mit Cristiano Ronaldo und Lionel Messi?
Auch darüber habe ich ein Kapitel in meinem Buch geschrieben, es heißt: "Das Messi-Problem". Seine Quote ist in den letzten Jahren unter den Durchschnitt gerutscht. Rund 75 Prozent aller Elfmeter werden weltweit verwandelt. Kane und Lewandowski liegen bei knapp 90 Prozent. Messi hat seine Technik, seine Routine nicht verändert und wenn punktuell doch, hat er verschossen. Ronaldo hat eine bessere Quote, auch er ist ein Weltklassespieler, wurde jedoch in der Ausführung etwas schlampig und faul.