AZ-Serie zu Fußball-Legende Pelé: Beethoven und die Despoten
Am liebsten wäre Edson Arantes do Nascimento sicher allein gewesen, mit sich und dem Lieben Gott - in dem Moment, als er vor dem prachtvollen Barockaltar für ein Gebet die Hände faltete und die Augen schloss. Aber natürlich war eine andächtige und für diesen Ort angemessene würdevolle Stille an diesem Tag nicht denkbar. Als Pelé in die Knie ging, tummelten sich 30 Reporter um den Weltstar, zuckten grelle Blitzlichter durch den sakralen Raum und statt wie sonst erhabener Orgelmusik oder dem gemurmelten Rosenkranz waren die Auslöser der Fotokameras zu hören. An jenem Tag im Februar 1966. In der Wieskirche im Pfaffenwinkel.
Medienspektakel: Pelés Flitterwochen in Bayern
Natürlich waren die Flitterwochen des Superstars ein gewaltiges Medienspektakel. Erst fünf Tage zuvor hatte Pelé die frühere Lehrerin und Basketballspielerin Rosemari dos Reis Cholbi unter Polizeischutz geheiratet, doch die Hoffnung auf eine ungestört ruhige Hochzeitsreise zerplatzte schnell. Da half es auch nichts, dass sich das junge Paar auf der Passagierliste der Lufthansa-Boeing 707 von Rio nach Frankfurt mit falschem Namen eintragen ließ. Als "Dr. Graf und Frau".
Dass Pelé samt Gemahlin überhaupt nach Deutschland kam, lag an Roland Endler. Ein Unternehmer aus Neuss, der von 1958 bis 1962 den FC Bayern als Präsident vor dem drohenden Ruin bewahrte und der schon in dieser Zeit durch seine beruflichen Kontakte nach Brasilien enge Bande mit dem FC Santos knüpfte. Endler beriet den Klub bei seinen jährlichen Europa-Gastspielen und schloss bald enge Freundschaft mit Pelé.
Hochzeitsreise unter anderem in München
Während der Hochzeitsreise residierten der zweifache Weltmeister und seine Rosi mal in Endlers Münchner Wohnung im Begasweg in Solln, mal in den weiteren Häusern des Industriellen, ob in Garmisch oder in Riccione an der Adria. Und als Pelé im November 1969 im Maracanã sein 1000. Tor erzielte, schenkte ihm Endler einen himmelblauen Mercedes der legendären Heckflossen-Serie W111.
Für großes Aufsehen sorgte Pelé 2012, als er auf Sky erklärte, wie ihn Endler zum FC Bayern holen wollte: "Ich hatte Angebote von Mailand, Madrid, aber das konkreteste Angebot war von Bayern." So habe Endler noch als Präsident zu ihm gesagt: 'Wenn du nach München kommen willst, dann machen wir das.' Nur, so ergänzte er, habe er sich in Brasilien so wohl gefühlt, dass ein Wechsel nicht in Frage gekommen sei.
Systemkonform seit jeher
Dass Pelé kein Roter wurde, dass er überhaupt bis zum Ausklang seiner Karriere bei Cosmos New York den FC Santos und Brasilien nie verließ, lag aber letztlich vor allem am Veto der Machthaber. Es war der demokratische Präsident Janio Quadros, der Pelé schon 1961 zum unverkäuflichen Nationalheiligtum erklärte. Und Pelé fügte sich.
So wie er sich sein ganzes Leben lang mit der herrschenden Elite seines Landes arrangierte – auch nach dem brutalen Militärputsch 1964. Pelé begehrte nie auf gegen Unrecht und Verfolgung, gegen die brutale Unterdrückung Oppositioneller und Andersdenkender.
"Es gab keine Veränderungen"
In der sehr starken Netflix-Doku "Pelé" von Ben Nicholas und David Tryhorn antwortet der schon gealterte Weltstar auf die Frage nach den Veränderungen im Land nach der Übernahme der Junta teilnahmslos: "Es gab keine Veränderungen. Zumindest nicht für mich. Für mich blieb alles gleich."
So feierte er sein 1.000tes Tor zusammen mit dem despotischen Präsidenten Medici, so wie auch den WM-Triumph 1970, als sich beide beim Empfang in der Heimat in den Armen lagen, als Medici sich den Pokal schnappte und in die Höhe stemmte, als habe er das Finale gewonnen. So wie später dann auch ein Oberbürgermeister in Frankfurt.
Der Kotau vor den Generälen, dass er sich den Diktatoren anbiederte, dass er sich von den Militärs einspannen ließ für imagefördernde Bilder der Regenten-Kaste, das sorgte dafür, dass Pelé bis heute von vielen in Brasilien zwar respektiert und als Fußballer verehrt wird.
Unterwürfig, ohne Widerworte
Aber von den Massen eben keineswegs grenzenlos von Herzen geliebt wird wie etwa der säbelbeinige Garrincha, der Seleção-Star der WM 1962, der aus der Gosse kam und dort auch wieder endete, bevor er sich schnörkellos in den Sarg soff.
Paulo Cesar Lima, Teil der großen 1970er-Seleçao, sagte einmal, Pelé habe sich benommen "wie ein unterwürfiger Schwarzer, der alles hinnimmt, keine Widerworte gibt und nichts hinterfragt." So wie zuletzt 2020, als er dem autokratischen Präsidenten Jair Bolsonaro freudig ein handschriftlich signiertes Santos-Trikot widmete.
Zeit seines Lebens verstand es Pelé meisterhaft, sich zu arrangieren und leichtfüßig ohne Widerstand durchs Leben zu schlängeln, sich als Testimonial für Werbespots einkaufen zu lassen, ob für Modefirmen aus Frankreich und Fluglinien aus den Emiraten, für Softdrinks aus den USA oder Autos aus Wolfsburg, für Kreditkarten oder sogar Viagra.
Werbung für Viagra
Was von "O Rei" aber vor allem als Vermächtnis bleibt, ist schlicht die große Kunst, mit der er die Menschen berührte und verzauberte. "So wie Beethoven auf die Welt kam, um Musik zu komponieren, und Michelangelo, um zu malen", sagte er ja einmal selbst, "so wurde ich geboren, um Fußball zu spielen."
Nun kickt er da oben mit denen, die hier nicht mehr sind. Würde man gerne sehen, diese Traumelf. Pelé mit Maradona und Cruyff, Puskas, Bobby Moore und Stan Matthews. Vorne Gerd Müller, Uwe Seeler, Paolo Rossi. Die Engel sind zu beneiden für ihre Tribünenplätze. Im Tor Gordon Banks.
Und als Verteidiger der zu Unrecht so oft unterschätzte Tarcisio Burgnich, der nach dem WM-Finale 1970 sagte: "Vor dem Spiel hatte ich gesagt, dass Pelé auch nur aus Fleisch und Knochen besteht. Aber ich hatte mich geirrt." Jetzt aber besteht auch Burgnich nicht mehr aus Fleisch und Knochen, jetzt ist er und all die anderen überirdisch, im Himmel gibt es keine Unterschiede mehr. Vor Pelé sind sie dort alle gleich.
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