Kunst am Ball: Pelés Momente für die Gedichtsbücher
Monumentale Momente in Pelés langer Karriere gab es viele. Sein erstes WM-Tor - 1958 gegen Wales. Dann im Finale, sein Tanz vor dem Treffer zum 3:1 gegen Schweden.
Oder 1961 beim FC Santos gegen Fluminense, sein betörend schönes Solo aus dem eigenen Sechzehner, mit dem Ball vorbei an allen Gegenspielern, für viele bis heute das schönste Tor, das je im Maracanã erzielt wurde. Und natürlich viele Jahre später, 1969, sein Jubiläumstreffer, das tausendste Tor.
Ein Moment für die Ewigkeit - auf YouTube
Der aber bezauberndste Augenblick war gar keines seiner letztlich 1.281 Tore. Sondern 1970 im WM-Finale gegen Italien, ein Pass ins Nichts. Ein Segen, dass die Sequenz auf YouTube für ewig gespeichert ist. Zum Vorspulen und zurück, zum Genießen in Endlosschleife.
Wie Jairzinho Facchetti täuscht, nach innen zieht, wie Pelé gut 20 Meter vor dem Tor den Ball stoppt und ihn dann vorbei an dem erstaunten Tarcisio Burgnich langsam seitlich in den Strafraum streichelt.

In die Leere des Raums, hinein ins vermeintliche Nirgendwo - bis plötzlich aus dem Off Carlos Alberto ins Bild hineinstürmt und mit seinem Gewaltschuss ins lange Eck das 4:1 erzielt, den Endstand.
"Ein Ausdruck von Schönheit, der uns berührt"
Über diese einzigartige Szene in der Geschichte des Fußballs sagte der "große Philosoph" Eric Cantona einmal: "Ich habe nie einen Unterschied zwischen dem Pass von Pelé zu Carlos Alberto im Finale der Fußball-WM 1970 und der Poesie des jungen Rimbaud gefunden - und werde dies auch nie tun." Er sprach dabei auch noch von einem "Ausdruck von Schönheit, der uns berührt und uns ein Gefühl von Ewigkeit vermittelt".
Mit diesem schönen und berührenden Kunstwerk vollendete sich Pelé damals zum ersten und bislang einzigen Spieler, der dreimal Weltmeister wurde. 1956 hatte sein Entdecker Waldemar de Brito sein Versprechen eingelöst und den 15-jährigen Pelé aus der Provinzstadt Bauru zum großen FC Santos geholt.

Danach ging alles ganz schnell, das Debüt bei den Profis im September 1956, sein erstes Länderspiel im Juli 1957, als er beim 1:2 gegen Argentinien gleich auch das erste Tor für die Seleçao erzielte. Dann die WM 1958 in Schweden, bei der er in den ersten zwei Spielen nur auf der Bank saß - bevor er Brasilien zum ersten Titel schoss: Sein Tor im Viertelfinale beim 1:0 gegen Wales, der Hattrick im Halbfinale beim 5:2 gegen Frankreich, seine zwei Treffer bei einem neuerlichen 5:2 gegen Schweden im Endspiel.
Pelé: dreimaliger Weltmeister
Das Finale wurde so zur ersten feierlichen Krönungsmesse für "O Rei", der bei der Siegerehrung auf Schwedens König Gustav VI. traf. Und die Monarchen waren unter sich.

Nach der Rückkehr nach Brasilien bejubelten Millionen Menschen den jungen Volkshelden, bei den Siegesfeiern gleich nach der Landung in Recife, dann in Sao Paulo, in Rio. Man reichte Pelé herum auf Dinnerpartys und Cocktail-Empfängen, man wollte sich sehen lassen mit ihm.
Brasiliens Gesellschaft vereinnahmte wie in späteren Jahren schon damals den Teenager, der auch bei der Ehrung in seiner Heimat Bauru völlig überfordert wirkte, als der Bürgermeister dem nun berühmtesten Sohn der Stadt ein Auto schenkte.

In seiner Zeit als Schuhputzer hatte Pelé einmal ausgerechnet, dass er, um sich einmal ein Auto zu leisten, 55 Jahre lang arbeiten müsste. Und nun bekam er es mit 17, als er noch nicht einmal einen Führerschein hatte - den Wagen schenkte er schließlich seinem Vater.
Ganz oben angekommen: Europa-Tournee 1959
Pelé war oben angekommen. Und dass man mit dem jungen Idol viel Geld verdienen könne, erkannten auch die Manager des FC Santos, als sie 1959 mit der ersten ihrer berühmten Europa-Tourneen begannen, bei denen der Klub gegen die Großen des Kontinents spielte, Real, Barça, Juve, Inter, Benfica - aber vor allem gegen jeden, der zahlte. In den mehr als zehn Jahren der Gastspiele östlich des Atlantiks nahm Santos rund 20 Millionen Dollar ein.
So gastierte der Zirkus Santos auch in Bielefeld auf der Alm, beim KSC im Wildpark, und dreimal auch im Grünwalder Stadion. Das erste Mal im Mai 1960, an einem Abend, an dem zeitlich zwei Weltstars in München Hof halten sollten: Marlene Dietrich im Deutschen Theater. Und Pelé auf dem Giesinger Berg. Beim 9:1 gegen desolate Sechzger traf er dreimal. Sieben Jahre später, ein Jahr nach der Meisterschaft der Blauen, führten die Löwen durch je zwei Tore von Rebele und Bründl nach 77 Minuten schon 4:2. Am Ende gewann Santos 5:4.
Jagdszenen einer WM
Als Santos 1961 an der Grünwalder Straße 3:2 gegen den FC Bayern gewann, fehlte der damals 20-jährige Pelé, verletzungsbedingt. Wie schon so oft in jenen Jahren, und auch vor der WM 1962 in Chile plagte sich Brasiliens Superstar mit einem maladen Knie herum.
Im zweiten Gruppenspiel gegen die CSSR verletzte sich Pelé ohne Fremdeinwirkung am Oberschenkel und fiel für den Rest des Turniers aus, weshalb Brasilien die Titelverteidigung vor allem den Künsten des krummbeinigen Garrincha zu verdanken hatte. Auch 1966 in England reiste Pelé erschöpft an.
Was Pelé da im Aztekenstadion kreierte, war große Lyrik
In den Spielen gegen Bulgarien und Portugal erklärten ihn die Gegenspieler zu Freiwild und traten nach Belieben auf ihn ein, Jagdszenen, wie man sie sonst nie mehr bei einer WM sah, außer natürlich 1982 - Claudio Gentile gegen Maradona.
Nach der WM in England wollte Pelé nie mehr für die Seleçao spielen. Doch auf Drängen der Regierung und des Volks ließ er sich zu einem Comeback überreden, führte Brasilien zum dritten Titel. Mit vier Toren und dem Zuspiel auf Carlos Alberto, das so genial war, so verspielt, so freudig und kindlich naiv.
Vielleicht verglich Eric Cantona diesen Augenblick deshalb mit dem Poeten Arthur Rimbaud, der einmal schrieb: "Genie ist die wiedergewollte Entdeckung der Kindheit." Was Pelé an diesem Tag im Aztekenstadion kreierte, war große Lyrik. Ein Moment für die Gedichtsbücher.
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