Politische Krise? "Das erinnert mich an Weimar"

München - Die AZ hat mit Theo Waigel gesprochen: Der 78-jährige Jurist war von 1989 bis 1998 Bundesfinanzminister und von 1988 bis 1999 CSU-Vorsitzender. Er lebt mit seiner Frau Irene in Seeg im Ostallgäu.
AZ: Herr Waigel, die Union und die SPD haben sich nach quälend langen Verhandlungen auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Erleichtert?
THEO WAIGEL: Ja, alles andere wäre eine Katastrophe gewesen. Es hat sowieso schon viel zu lange gedauert.
Was sagen Sie zur Postenverteilung? Die SPD hat mit den drei Kernressorts Außen, Finanzen sowie Arbeit und Soziales das Maximum herausgeholt, oder?
Ja, das kann man wohl sagen. Durch das Finanzministerium ist die SPD weltweit nun auch bei allen relevanten Gesprächen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik dabei. Seit Helmut Schmidt Anfang der 70er-Jahre Wirtschaft entkernt und Finanzen gestärkt hat, ist das Finanzressort ja noch wichtiger. Ich bin mir sicher, dass Wolfgang Schäuble auch schon gespürt hat, warum er sich verabschieden und den Posten des Bundestagspräsidenten annehmen sollte. Andererseits: Die SPD hatte das Finanzministerium ja auch schon inne, von 2005 bis 2009 mit Peer Steinbrück. Damals waren die Sozialdemokraten allerdings auch fast so stark wie die Union.
Halten Sie Olaf Scholz für eine gute Wahl als Finanzminister?
Ja, er hat das schwierige Amt des Hamburger Bürgermeisters ruhig und gelassen geführt – sieht man einmal von den Ausschreitungen beim G20-Gipfel ab. Er besitzt die nötige Routine und wird sich in Berlin einarbeiten. Ich rate ihm nur, nicht gleich Tabula rasa zu machen und die bewährten Kräfte im Ministerium durch irgendwelche Parteisoldaten zu ersetzen. Das wäre fatal.
GroKo-Personal: Das sind die neuen Hausherren
Ministerpräsident Horst Seehofer wird Innenminister. Der richtige Posten für ihn?
Ja, natürlich. Er sitzt auf der Regierungsbank neben Kanzlerin und Außenminister. Außerdem hat die CSU viel Erfahrung mit diesem Ressort, ich erinnere an die Herren Höcherl, Zimmermann und Friedrich. Und: Der Innenminister kümmert sich um die Probleme in der Flüchtlingspolitik, ein Thema, das die Menschen stark bewegt.
Trotz des späten Durchbruchs bei den Verhandlungen – in trockenen Tüchern ist die neue Große Koalition noch längst nicht. Noch muss die SPD-Basis den Daumen heben.
Da hat mir der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann imponiert, als er kürzlich gesagt hat: Ich käme doch nie auf die Idee, mir meine Politik von der grünen Basis diktieren zu lassen. Da hat er recht. Ich muss als Parteivorsitzender ab und zu eine Entscheidung fällen. Wenn den Mitgliedern diese Entscheidung nicht passt, können sie mich ja abwählen.
Sie sind kein Freund von Volksbefragungen?
Nein, auf Bundesebene bin ich das nicht. Da lässt man den Emotionen, dem Populismus freien Lauf. Auf regionaler Ebene, auf lokaler Ebene ist das anders. Da können Referenden dazu beitragen, die Bürger stärker einzubinden.
Bei der SPD kommt noch hinzu, dass kein Mensch weiß, wer da jetzt eintritt, um die GroKo zu verhindern.
Genau. Das ist doch geradezu absurd: Tritt ein, sag’ Nein! Da ist die Negation in der Grundphilosophie. Ich trete doch ein, um Ja zu sagen zu etwas. Jeder, der unter einem anderen Aspekt eintritt, disqualifiziert sich in meinen Augen selber.
"Wir befinden uns gerade in einer großen Glücksphase"
Befinden wir uns in einer politischen Krise?
Manches erinnert mich schon an Vorgänge in der Weimarer Zeit. Ich glaube nicht, dass die Krise heute so schlimm enden wird. Und ich glaube, dass wir über genügend Kraft verfügen, um sie zu überwinden. Allerdings: Wir müssen schon Acht geben. Wenn eine Regierungsbildung in Deutschland ein halbes Jahr dauert, ist das ungewöhnlich. Wenn so etwas in Belgien oder in Finnland oder in Holland passiert, dann nimmt man das mehr oder weniger amüsiert zur Kenntnis. Aber mit Deutschland ist es anders: Auf uns schaut Europa, auf uns schaut die Welt.
Und die erwartet von Deutschland politische Stabilität.
Genau. Hier funktioniert die Regierung ja auch als geschäftsführende Regierung. Aber wir müssen langsam Antworten auf Fragen finden: Wie geht’s in Europa weiter? Wie gehen wir mit unseren Nachbarn um? Wie sehen die Zukunftsentwürfe für die Bundesrepublik aus? Wie ist unser Verhältnis innerhalb der Nato zu den Vereinigten Staaten? Bei allem Respekt vor der Kanzlerin: Es wäre besser, sie wäre längst gewählt, sie hätte eine Mehrheit hinter sich, auch wenn es eine schwierige wäre. So ist sie immer noch auf Tagesaktivitäten beschränkt.
Beunruhigen Sie in diesem Zusammenhang auch die neuesten Nachrichten aus der Wirtschaft, von den Börsen? Man hat den Eindruck, der derzeitige Boom könnte auch irgendwann einmal zu Ende sein.
Ein Boom kann nicht für immer anhalten, wir befinden uns gerade in einer großen Glücksphase. Obwohl alle Welt auf den Draghi schimpft, verdankt der derzeitige Finanzminister – genauso wie der zukünftige – der Politik des EZB-Präsidenten die Tatsache, dass er keine Zinsen bezahlen muss, dass er Geld umsonst bekommt.
Schwillt Ihnen nicht der Kamm, wenn Sie sehen, für welche Projekte die GroKo nach dem Gießkannenprinzip das Geld ausgeben will?
Mir fehlt in den Projekten die Gerechtigkeit gegenüber der jungen Generation. Wir versuchen, Gerechtigkeit herzustellen gegenüber der älteren Generation, gegenüber Müttern, deren Erziehungszeit nicht genügend berücksichtigt wurde. Das ist berechtigt, aber wo ist auf der anderen Seite die Stimme der jüngeren Generation, die sagt: Jetzt habt ihr eine Verschuldung in Deutschland von etwa 68 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Wenn wir aber die implizite Staatsschuld, mit all dem, was von der Sozialpolitik bereits beschlossen wurde, hernehmen, dann sind wir bei 146 Prozent.
Deutlich zu viel.
Das ist das, was auf die Jungen zukommt. Deutschland lag auch schon bei über 200 Prozent, hat sich also deutlich verbessert, was der Agenda 2010 von Gerhard Schröder zu verdanken ist. Hier besonders dem damaligen Sozialminister Franz Müntefering, der die Rentenanwartszeit auf 67 Jahre erhöht hat – gegen heftigste Proteste in der eigenen Partei übrigens. Dabei war es demografisch unabdingbar, weil die ältere Generation zehn Jahre älter wurde als früher, als meine Eltern zum Beispiel.

Was sind die richtigen Schlüsse aus dieser demografischen Entwicklung?
Neben Bildung, neben Digitalisierung, alles wichtige Projekte, sollte ein Teil der jetzigen Überschüsse in einem Zukunftsfond angelegt werden, vielleicht in Aktien, um das Geld für die kommenden demografischen Herausforderungen zu verwenden.
So wie in Norwegen?
So wie in Norwegen. Nur haben die das Glück, dass sie es mit Öl finanzieren können.
Die Große Koalition denkt allerdings mehr ans Ausgeben als ans Anlegen, oder?
Ja, deshalb wäre mir Jamaika auch lieber gewesen, es wäre interessanter gewesen – trotz aller Spannungen, die durch die Grünen und durch die relativ junge liberale Partei entstanden wären. Ich verüble der FDP, dass sie gekniffen hat. Diese Spielchen von Lindner, die erinnerten mich schon an Weimar. Auf der anderen Seite hatte ich Verständnis für die SPD, als sie nach der Wahl angekündigt hatte, in die Opposition gehen zu wollen. Aber jetzt konnte sie nicht anders, sonst hätte sie sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, wie Anfang der 30er Jahre die Rechten groß werden zu lassen.
Wie steht es um Bundeskanzlerin Angela Merkel? Verfügt sie noch über genügend Rückhalt in ihrer Partei, in der Bevölkerung?
Die Frau hat ungewöhnliche Stärke, die darf man nicht unterschätzen. Ich kenne sie länger als alle Beteiligten, seit dem 1. Juli 1990, als wir die D-Mark in der DDR eingeführt haben. Da gab’s eine Pressekonferenz mit dem damaligen Finanzminister der DDR, Romberg, und mir, die wurde geleitet von einer schüchternen jungen Frau namens Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Schüchternheit hat sie inzwischen abgelegt. Allerdings würde ich mir wünschen, dass sie manchmal im öffentlichen Disput stärker Stellung bezieht. Ich höre immer wieder, dass sie im kleinen Kreis lebendig und unterhaltsam ist. Wie auch immer: Ich sehe in der CDU weit und breit niemanden, der sie ersetzen könnte.
"Ich sehe in der CDU niemanden, der sie ersetzen könnte"
Ein Problem für die CDU?
Bundeskanzlerin Angela Merkel weiß, dass sie nicht unbegrenzt lange regieren kann. Die 16 Jahre von Kohl werden wohl nie mehr erreicht. Ich glaube, dass sie sich darauf einstellen sollte, dass dies ihre letzte Legislaturperiode ist. Da muss sie auch nicht als "lame duck" agieren, als lahme Ente, wie die Amerikaner das nennen. Sie muss sich und der Welt nichts mehr beweisen. Das kann ihr sogar Führungsstärke geben.
Blicken wir auf Bayern. War Ihnen klar, dass es nach dem schwachen Abschneiden der CSU personelle Konsequenzen geben würde?
Ja, das war es. Söder hatte seine Machtposition als erfolgreicher Finanzminister so stark aufgebaut, dass Joachim Herrmann oder Ilse Aigner keine Chancen gehabt hätten. Angesichts der schwierigen Koalitionsverhandlungen in Berlin war es auch richtig, dass Seehofer Parteichef blieb. Für einen Neuling wäre es unendlich schwierig geworden, in diese komplizierten Geschichten einzutauchen und gleich zu reüssieren. Entweder man überreagiert, wie Lindner das getan hat, oder man gilt als schwach.
Seehofer hat für die CSU eine Menge herausgeholt, oder?
Die CSU war gut repräsentiert. Über die eine oder andere Äußerung war ich nicht immer glücklich, zum Beispiel im Zusammenhang mit der SPD von einem "Zwergenaufstand" zu sprechen (wie Alexander Dobrindt es tat, d. Red.). Ich darf anderen Leuten, auch wenn ich mit ihnen ringe, das Leben nicht unnötig schwermachen.
Zur SPD: Hatten Sie nach der Bundestagswahl Mitleid mit den Sozialdemokraten?
Mitleid ist das falsche Wort. Ich weiß um den Wert und die Notwendigkeit einer sozialdemokratischen Partei. Wenn man sich mit der Geschichte dieses Landes auseinandersetzt, wird man vor dieser Partei Respekt haben müssen.
Bei allen Verdiensten der SPD-Politiker – ist die Große Koalition eine Dauerlösung?
Nein, das ist sie nicht. Sonst gehen wir irgendwann zwangsläufig den Weg von Österreich. Wobei klar ist, dass die CSU nie mit der AfD zusammengehen wird, einfach, weil sich dort Personen tummeln, mit denen man sich nicht einlässt.
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