"Neue Bedrohungssituation": Boris Pistorius führt neues Wehrpflicht-Modell ein

Berlin – Verteidigungsminister Boris Pistorius hat in Berlin seine Pläne für einen neuen Wehrdienst vorgestellt. Der SPD-Politiker will nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur (dpa) junge Männer verpflichten, in einem Fragebogen Auskunft über ihre Bereitschaft und Fähigkeit zum Dienst zu geben und sich bei Auswahl einer Musterung zu stellen. Kritik kommt dabei vor allem aus Bayern.
Mindestens achtmal so viele jährliche Rekruten
Laut Experten gehe man davon aus, dass etwa ein Viertel der Personen, die den entsprechenden Fragebogen ausfüllen, Interesse an einem Wehrdienst bekunden könnten. Es brauche sei jedoch notwendig, dass pro Jahr 400.000 Menschen an der Umfrage teilnehmen, heißt es weiter.
Um den Plan in die Tat umzusetzen, sei außerdem eine Erweiterung des Wehrpflichtgesetzes für junge Männer notwendig. Es sei vorgesehen, 40.000 Kandidaten zur Musterung zu bestellen – die aktuellen Kapazitäten für die Ausbildung würden sich jedoch auf 5000 bis 7000 begrenzen. Hier wolle man ausbauen. Ausgegangen wird von einem Dienst, der sechs oder auch zwölf Monate dauern kann.
Pistorius spricht von "neuer Bedrohungssituation"
Pistorius hatte am Mittwochvormittag den Verteidigungsausschuss des Bundestags über seine Pläne informiert. Am Nachmittag stellte er sie der Öffentlichkeit bei einer Pressekonferenz vor.
Hintergrund ist laut Pistorius "eine neue Bedrohungssituation." Russland habe nicht nur die Ukraine angegriffen, auch verbale Attacken gegen andere Staaten nähmen zu. Pistorius sagte laut Berichten des ZDF: "Nach Einschätzung aller internationalen Militärexperten muss man davon ausgehen, dass Russland ab 2029 in der Lage sein wird, militärisch einen Nato-Staat oder einen Nachbarstaat anzugreifen." Deswegen müsse Deutschland Aggressoren abschrecken, sodass diese Nato-Territorium gar nicht erst angreifen würden. Aus diesem Grund werde die Bundeswehr besser ausgestattet. Es brauche auch eine "stabile Reserve" von Soldatinnen und Soldaten, Pistorius nannte die Zahl 200.000.
So soll der neue Wehrdienst aussehen
Um diese Ziele zu erreichen, plant Pistorius einen neuen Wehrdienst bzw. "Auswahlwehrdienst". Dieser soll auf Freiwilligkeit setzen, "im Bedarfsfall aber auch verpflichtende Elemente" beinhalten. Laut dem Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) soll sowohl Männern als auch Frauen ab 18 ein Fragebogen zugeschickt werden. Dabei werden auch die körperliche Fitness und die Motivation abgefragt. Die Beantwortung soll für Männer verpflichtend und für Frauen freiwillig sein. "Durch diese direkte Ansprache befassen sich viele junge Männer und Frauen vermutlich zum ersten Mal mit der Frage, warum wir eine Bundeswehr haben und ob sie einen Wehrdienst leisten möchten", heißt es auf der Internetseite des BMVg.
Ein Teil der jungen Männer, die den Fragebogen ausgefüllt haben und als geeignet befunden wurden, müssen sich mustern lassen. Frauen können sich freiwillig einer Musterung unterziehen. "Die Geeignetsten und Motiviertesten werden ausgewählt", so das BMVg.
Die SPD-Spitze pochte zuletzt auf Freiwilligkeit
Gegen die Wiedereinführung eines verpflichtenden Wehrdienstes gab es zuletzt vor allem in Teilen der SPD deutlichen Widerspruch. So hatte sich SPD-Chef Lars Klingbeil dafür ausgesprochen, bei der Rekrutierung weiterhin auf Freiwilligkeit zu setzen. "Ich finde, wir sollten es freiwillig probieren, indem wir die Bundeswehr noch attraktiver machen", sagte er. Der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour hatte zum Jahreswechsel deutlich gemacht: "Ich glaube nicht, dass die Wehrpflicht gebraucht wird." Widerstand gegen einen verpflichtenden Dienst gab es auch aus der FDP, wobei eine Kursänderung möglich erscheint.

Verpflichtend wäre nach dem Pistorius-Modell nun die Beantwortung des Fragebogens sowie die Musterung, wenn zu dieser eingeladen wird. Er plädiert dem Vernehmen nach dafür, auch schon in Friedenszeiten Wege für einen verpflichtenden Militärdienst freizumachen, falls nicht genug Rekruten gefunden werden.
Markus Söder zu Pistorius-Plan: "Papier löst keine Probleme"
Dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder ist Pistorius' Vorschlag nicht radikal genug. Auf X (ehemals Twitter) schreibt er: "Großen Worten folgen leider keine Taten. Der Plan des Verteidigungsministers ist viel zu wenig für eine Stärkung der Bundeswehr. Es bräuchte die langfristige Wiedereinführung der Wehrpflicht." Seit einem "Masterplan" komme "nur ein Fragebogen", so der CSU-Chef. Er stellt klar: "Papier löst keine Probleme. Deutschland und Europa müssen dringend verteidigungsfähig werden. Dazu gehört eine stärkere Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft und mehr Personal. Eine Wehrpflicht könnte das ermöglichen."
FDP-Kritik zu Wehrpflichtmodell: "Die forcierte Konzentration auf junge Männer dürfte nicht zu halten sein"
Auch seitens der FDP zeigen sich nicht alle zufrieden mit dem Vorstoß des SPD-Politikers. Marie-Agnes Strack-Zimmermann bemängelt auf ihrem X-Account den Fokus auf junge Männer. Sie schreibt: "Hinsichtlich der Pläne von Minister Pistorius muss klar sein: Im Sinne der Wehrgerechtigkeit würden sowohl junge Frauen als auch junge Männer einen sogenannte Pflicht-Fragebogen ausfüllen müssen. Die vom Minister forcierte Konzentration auf junge Männer dürfte nicht zu halten sein."
Die Bundeswehr wurde zuletzt immer kleiner
Trotz einer Personaloffensive war die Bundeswehr im vergangenen Jahr auf 181 500 Soldatinnen und Soldaten geschrumpft. Pistorius ließ deshalb - auch unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine - Modelle einer Dienstpflicht prüfen. Er hatte schon bei einer Regierungsbefragung durchblicken lassen, dass er nicht auf komplette Freiwilligkeit setzt: «Nach meiner festen Überzeugung wird es nicht gehen ohne Pflichtbestandteile.» Wiederholt betonte er, Deutschland müsse «kriegstüchtig» werden, um zusammen mit den Nato-Verbündeten glaubhaft abschrecken zu können.
Zuletzt äußerte er beim Tag der Bundeswehr Verständnis dafür, dass der Begriff "Kriegstüchtigkeit" einige erschreckt habe und immer noch störe. Dies sei auch ein bisschen die Absicht gewesen. «Es ist notwendig, auch durch die richtigen Begriffe deutlich zu machen, worum es geht», fügte er hinzu. Es gehe darum, einen Verteidigungskrieg führen zu können, wenn man angriffen werde - «also vorbereitet zu sein auf das Schlimmste, um nicht damit konfrontiert zu werden».
Die Gerechtigkeit beim Wehrdienst bleibt ein Problem
In der Debatte um den Wehrdienst geht es auch um die verfassungsrechtlich gebotene Wehrgerechtigkeit. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt, es habe seit der Gründung der Bundeswehr immer mehr wehrfähige Männer gegeben, als für die Armee benötigt wurden, was vielfach als ungerecht empfunden worden sei.
Der Staat kennt auch andere verpflichtende Dienste, wie bei Schöffen. Jeder Staatsbürger ist zur Übernahme dieser Tätigkeit als ehrenamtlicher Richter verpflichtet. Und für den Feuerschutz wird eine sogenannte Pflichtfeuerwehr dann eingerichtet, wenn eine Freiwillige Feuerwehr nicht zustande kommt. Die Kommunen müssen dann geeignete Personen zum Feuerwehrdienst verpflichten. Öffentlich diskutiert wurde zuletzt auch eine weiter gefasste neue Dienstpflicht, die auch Rettungsdienste und den Katastrophenschutz umfassen könnte. Für eine Dienstpflicht junger Frauen müsste das Grundgesetz geändert werden.
Bundeswehrverband sieht nun Testfall für die Zeitenwende
Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Oberst André Wüstner, hatte vor Bekanntwerden der Pistorius-Pläne entschlossene Schritte für einen neuen Wehrdienst gefordert. Die Personalzahlen in der Bundeswehr seien in diesem Monat auf den tiefsten Stand seit 2018 gefallen, sagte Wüstner der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. «In den kommenden Tagen wird sich zeigen, bei wem seit Ausrufung der Zeitenwende zumindest verteidigungspolitisch tatsächlich eine Erkenntniswende eingetreten ist», sagte der Verbandschef mit Blick auf die Debatte. «Denn wer das von sich behauptet - ich hoffe, dass es zumindest die Fachpolitiker tun - der wird sich nicht pauschal gegen eine neue Wehrform oder eine neue Art Wehrpflicht wenden können.
Die Wehrpflicht war 2011 in Deutschland unter Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) nach 55 Jahren ausgesetzt worden. Das kam einer Abschaffung von Wehr- und Zivildienst gleich. Gleichzeitig wurden praktisch alle Strukturen für eine Wehrpflicht aufgelöst. Im Wehrpflichtgesetz ist aber weiter festgelegt, dass die Wehrpflicht für Männer auflebt, wenn der Bundestag den Spannungs- und Verteidigungsfall feststellt, ohne dass es nach 2011 noch konkrete Vorbereitungen für eine solche Situation gab.