"Jetzt brennt salopp gesagt die Hütte": FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann mahnt neue Sicherheitspolitik an
Gauting – Die AZ hat Marie-Agnes Strack-Zimmermann (65) und Phil Hackemann in Gauting zum Interview getroffen. Strack-Zimmermann ist die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Vizepräsidentin der Deutschen Atlantischen Gesellschaft und Spitzenkandidatin der FDP zur Europawahl. Hackemann, Jahrgang 1995, ist Spitzenkandidat der Jungen Liberalen Deutschland und der FDP Bayern für die Europawahl.
AZ: Frau Strack-Zimmermann, wir treffen uns bei München – hier haben Sie studiert. Welche Erinnerungen haben Sie an die Stadt, wie erleben Sie sie jetzt?
MARIE-AGNES STRACK-ZIMMERMANN: Immer wenn ich in München bin, die Theatiner-Kirche sehe und die Leopoldstraße entlang laufe, an der Universität und an der alten Mensa vorbei, dann habe ich ganz viele Erinnerungen. Ich habe zu meiner großen Freude nach wie vor viele Freunde aus Studienzeiten in München. Die bayerische Hauptstadt ist für mich nach wie vor ein wichtiger Bezugspunkt.

Es gibt die Idee, das Amt eines EU-Verteidigungskommissars zu schaffen. Wäre das ein Job für Sie?
Ich trete an als Spitzenkandidatin der FDP für die Europawahl. Der Plan ist, viele Stimmen zu bekommen und entsprechend stark mit vielen Kolleginnen und Kollegen ins Europaparlament einzuziehen. Es geht im Wahlkampf nicht darum, Jobs zu verteilen, es ist aber nett, dass Sie mich fragen. (lacht) Uns ist es wichtig, dass die Wirtschaft und die Sicherheit in den Mittelpunkt unserer Arbeit gestellt wird. Bei Letzterem ist es in der Tat relevant, dass unser Vorschlag aufgegriffen wird, einen Kommissar oder Kommissarin für Sicherheitspolitik zu installieren und selbstverständlich einen vollwertigen entsprechenden Ausschuss zu schaffen, der sich mit der europäischen Sicherheit beschäftigt. Dies hätte in den letzten Jahren längst geschehen müssen, angesichts der Tatsache, dass die Unterstützung der Vereinigten Staaten auf Dauer nicht mehr so sein wird, wie das in den letzten Jahrzehnten der Fall gewesen ist. Unabhängig übrigens davon, wer der kommende US-Präsident sein wird.
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: "Eine Atombombe darf nie und nimmer zum Einsatz kommen"
Donald Trump hat am Super Tuesday abgeräumt. Umfragen sehen ihn im US-Wahlkampf vor Präsident Joe Biden. Wenn Trump gewinnt, würde das bei uns eher die Hardliner in der Außenpolitik stärken?
Bereits während der Präsidentschaft von Bill Clinton, von Barack Obama und besonders deutlich von Donald Trump, wurde uns unmissverständlich gesagt, dass wir als Europäer deutlich mehr Verantwortung übernehmen müssen. Jetzt brennt salopp gesagt die Hütte. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war sechs Jahre lang deutsche Verteidigungsministerin, länger als fast jeder andere in diesem Amt vor ihr, und hat als Kommissionspräsidentin das Thema Sicherheit nie auf den Tisch gelegt. Sie hat sich ausschließlich auf die Vorlage des ehemaligen Kommissars für Klimaschutz Timmermanns gestürzt und den sogenannten "Green Deal" bürokratisch und kleinteilig – ich nenne das Ameisen tätowieren – ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass der Wirtschaft die Luft zum Atmen genommen wird, durchgesetzt. In den kommenden Jahren wird es darum gehen, dass die Wirtschaft wieder Luft und Raum bekommt und die Sicherheit der Europäischen Union sichergestellt wird. Eine gesunde Wirtschaft ist die Voraussetzung, Sicherheit zu gestalten, die Sicherheit wiederum Voraussetzung, der Wirtschaft den Raum für Investition und Innovation zu geben. Beides bedingt einander und wird darüber entscheiden, wie wir in Europa zukünftig unser gemeinsames Leben gestalten werden.
Es gibt auch eine Diskussion um europäische Atomwaffen. Brauchen wir die?
Die Debatte darüber sollten wir in der Öffentlichkeit schleunigst einstellen. Es ist etwas anderes, ob wir über die Lieferung von Panzern oder dem Marschflugkörper Taurus diskutieren oder über den Einsatz und die Strategie von Atombomben. Denn bei den konventionellen Systemen geht es darum, dass sie zum Schutz der Ukraine auch eingesetzt werden. Eine Atombombe dagegen darf eben nie und nimmer zum Einsatz kommen. Sie dient der Abschreckung. Eine Diskussion darüber, werden uns die Vereinigten Staaten auch in Zukunft atomar schützen oder müssen wir alternativ unter den atomaren Abschreckungsschirm Frankreichs und Großbritanniens schlüpfen, ist ein so komplexes Thema, dass ich dringend davon abrate, dies am Stammtisch zu tun. Eine Atombombe ist ein hochkomplexes Massenvernichtungsmittel, welches den ganzen Globus vernichten kann, und eignet sich nicht für eine Diskussion.
"Das schwedische Modell wäre in Deutschland nicht umsetzbar"
Ist die Idee einer europäischen Armee eine bessere?
Man sollte nicht aufhören, darauf hinzuwirken. Deutsche und Niederländer arbeiten bereits eng zusammen. Die Deutsch-Französische Brigade besteht seit langem. Aus zwei Partnern können drei, vier oder fünf werden, auch wenn die Frage, wer befehligt eine europäische Armee, nicht profan ist. In Deutschland haben wir den Bundestag, der Einsätze billigt. In Frankreich ist es der Präsident. Vertrauen in die europäischen Partner zu haben, ist natürlich die Basis einer Europäischen Sicherheitsunion.
Man braucht auch Menschen für diese Armeen. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius informiert sich gerade über das Wehrdienstmodell der Schweden. Wie stehen Sie zu einer Wehr- oder Dienstpflicht?
Das schwedische Modell wäre in Deutschland rechtlich, behaupte ich, gar nicht umsetzbar. Von all den jungen Menschen, die angeschrieben werden, werden nämlich nur maximal zehn Prozent verpflichtet. Das hat mit Wehrgerechtigkeit nichts zu tun. Uns fehlen zudem Kasernen, genug Ausbilder und Material. Und volkswirtschaftlich wäre es ein großes Problem, wenn wir, sowieso zu wenig junge Menschen in Deutschland habend, jedes Jahr Hunderttausende dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt entziehen. Besser ist es, Geld in den Aufbau einer hochmodernen Armee zu investieren. So würde die Bundeswehr auch wieder attraktiv für junge Menschen werden, denn Einsatzbereitschaft ist Attraktivität. Zudem werden wir in 20 Jahren andere Waffensysteme zum Schutz unseres Landes im Einsatz haben, die von wenigeren Soldatinnen und Soldaten geführt werden.
Wie sähen diese Systeme aus?
Unbemannt. Drohnen, Helikopter, Flugzeuge, Panzer, in denen keine Menschen mehr sitzen. Denn wir schonen damit die menschlichen Ressourcen – weil wir die im Einsatz befindliche Soldatinnen und Soldaten anders einsetzen. Das ist übrigens auch der große Unterschied zu dem Menschenbild Wladimir Putins, der in der Ukraine Hunderttausende seiner Soldaten in einen Krieg schickt.
Pistorius sprach davon, dass die Deutschen "kriegstüchtig" werden müssten. Wie wird eine Gesellschaft, die aus guten Gründen so lange pazifistisch gewesen ist wie die deutsche, wehrhaft?
Er nennt die Lage beim Namen. Richtig so, denn in der Ukraine tanzt nicht das Bolshoi-Ballett, sondern steht die russische Armee. "Wenn du Frieden willst, rüste für den Krieg", wussten schon die alten Römer. Es dreht sich eben auch um unsere gesellschaftliche Verfassung: Wir müssen uns der Gefahren bewusst sein und können nicht weiter so naiv sein, es würde schon alles gut gehen. Auch der Heimatschutz gehört wieder aufgebaut. Umfragen, in denen sich nur eine Minderheit zur Landesverteidigung bereit erklärt, halte ich übrigens für sehr theoretisch. Wenn jemand im Warmen sitzt und gefragt wird, ob er sich vorstellen kann, mit der Waffe in der Hand sein Land zu verteidigen, ist das vermutlich unvorstellbar. Und die Antwort heißt: "nein". Wenn aber das Nachbarhaus zerstört wird, Freunde gefoltert und getötet werden, dann wird in der Realität die Antwort eine andere sein. Das sehen wir ja jetzt gerade in der Ukraine.
In einem Interview haben Sie mal gesagt, Ihnen werde 14.000 Mal in der Woche die Bezeichnung "Kriegstreiberin" an den Kopf geworfen...
Dürfte inzwischen mehr sein. Zu 95 Prozent aber in der Anonymität des Netzes.
"Putin nimmt nicht auf unser Wohlbefinden Rücksicht"
Auch jetzt, während wir sprechen, wird draußen demonstriert. Prallt das an Ihnen ab, oder gestehen Sie manchen Menschen auch zu, dass sie aus Sorge um ihr Leben und ihr Land so agieren?
Wir leben erfreulicherweise in einem freien Land, in dem jeder demonstrieren und seine Meinung sagen darf, ohne Gefahr zu laufen, dafür ins Gefängnis geworfen zu werden. Und selbstverständlich habe ich Verständnis dafür, dass Menschen angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine auch bei uns Angst haben. Mich anzupöbeln und zu beleidigen, weil ich einordne, dass Putin nicht auf unser Wohlbefinden Rücksicht nimmt, sondern wir wehrfähig sein müssen, wollen wir auch in Zukunft in Freiheit und Frieden leben, das nehme ich hin. Mein Fell ist dick.
In der Abhöraffäre haben Sie eine Sondersitzung am Montag angekündigt. Pistorius scheint jedoch schnell den Deckel draufmachen zu wollen – wie ist Ihr Eindruck?
Das Ganze muss selbstverständlich schnell, aber auch gründlich aufgeklärt werden. Ich habe für Montag zu einer Sondersitzung eingeladen. Der Verteidigungsminister, der Generalinspekteur, der Inspekteur der Luftwaffe und die Chefin vom Militärischen Abschirmdienst werden dabei sein und den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses Rede und Antwort stehen.
Es gab zuletzt Diskussionen um einen möglichen Geheimnisverrat des Kanzlers, der französische Präsident Emmanuel Macron schoss quer mit seinen Gedanken zum Einsatz von europäischen Bodentruppen in der Ukraine – wer führt eigentlich innerhalb der EU in Sicherheitsfragen?
Frankreich und Deutschland sind die stärksten Volkswirtschaften in Europa. Ihnen obliegt, dieses Bündnis zu führen. Die 25 Partner warten darauf. Es wäre sehr hilfreich, wenn der Bundeskanzler und der französische Präsident, um im Bild zu bleiben, in Gleichschritt laufen würden. Gegenseitige Vorwürfe stören nicht nur die Zusammenarbeit, sondern erfreuen nur einen, und das ist Putin. Der setzt darauf, dass die EU im Laufe der Zeit nicht mehr aus einem Munde spricht. Das können wir uns definitiv nicht erlauben.
Phil Hackemann: "Die europäische Einigung ist ein großartiges Projekt"
Zur Europawahl: Sie beide kandidieren auf Spitzenpositionen. Die FDP hat aber auch viel Kritik an der EU. Wird Europa aus Ihrer Sicht schlecht regiert oder sind Strukturen dafür verantwortlich?
PHIL HACKEMANN: Insbesondere ersteres. Die europäische Einigung ist ein großartiges Projekt. Das zu zerstören, wie es etwa die AfD vorhat, würde massiv uns selbst schaden. Das heißt aber nicht, dass jedes einzelne EU-Gesetz gut ist: So wie das Lieferkettengesetz. Hier wird Europa unter Ursula von der Leyen einfach schlecht regiert. Wir wollen, dass sich die EU wieder auf die großen Herausforderungen konzentriert.
Sie wollen eine verkleinerte EU-Kommission mit 18 statt 27 Ministern – wer soll denn da verzichten?
HACKEMANN: Das wird Diskussionen brauchen, aber es ist notwendig. Die Kommission muss schlanker und handlungsfähiger werden, statt sich im Klein-Klein zu verlieren, wie sie es in den letzten Jahren sehr stark getan hat. Wir wollen dafür etwa das Einstimmigkeitsprinzip in der Außenpolitik abschaffen, damit wir schneller entscheidungsfähig werden – das geht nur, wenn nicht jedes Mitgliedsland ein Vetorecht hat.