Deutscher Ex-Botschafter in Moskau: "Dieser Krieg muss ein Weckruf sein"

AZ-Interview mit Rüdiger von Fritsch: Der Diplomat (67) war von März 2014 bis Juni 2019 deutscher Botschafter in Russland und zuvor (2010 bis 2014) in Polen. Er ist Partner der Unternehmens- und Politikberatung "Berlin Global Advisors".
AZ: Herr von Fritsch, Sie waren von 2014 bis 2019 Botschafter in Moskau und haben Wladimir Putin persönlich kennengelernt. Was für ein Mensch ist der russische Präsident?
RÜDIGER VON FRITSCH: Zunächst einmal ein sowjetischer Geheimdienstoffizier, der gelernt hat, in bestimmten Kategorien zu denken: in der Vorstellung von Verschwörungen und Machenschaften, die sich gegen das eigene Land und seine Macht richten. Was immer geschieht, ist er geneigt, in diese Kategorien einzuordnen. Zum anderen ist er als Präsident der Russischen Föderation schon sehr lange und aus seiner Sicht erfolgreich an der Macht. Er regiert sein Land mit den klassischen Mitteln des autoritären Systems und hat es inzwischen leider an den Übergang zur Diktatur geführt - durch Repression, Bestechung, das Kaufen von Zustimmung und massive Propaganda. Diese Mittel setzt er auch gegen die eigene Führung ein, mit der Folge, dass er von niemandem mehr kontrolliert oder zuverlässig beraten wird. Jeder sagt ihm lieber das, was er vermutlich hören will. Das führt zu Fehlschlüssen, wie wir sie in dem Angriffskrieg auf die Ukraine gesehen haben.
Von Fritsch: "Putin hat sich erkennbar völlig verkalkuliert"
Hätten Sie ihm diesen Überfall zugetraut?
Vor Ausbruch des Krieges waren sich eigentlich alle Analysten - auch solche in Russland - einig, dass ein Angriff angesichts der militärischen Drohung gegen die Ukraine zwar nicht auszuschließen ist, dass Putin aber andererseits mit einem Krieg massive Schäden für Russlands Interessen, Russlands Wohlergehen, seine Zukunft und auch für die eigene Macht riskieren würde. Deshalb sagten viele, er würde es möglicherweise doch nicht tun. Aufgrund seiner falschen Wahrnehmung der Wirklichkeit ist er jedoch zu dem Schluss gekommen, seine Ziele schnell erreichen zu können, hat es gewagt - und hat sich erkennbar völlig verkalkuliert.
Von Fritsch über Putin: "Inzwischen kämpft er auch um den Erhalt seiner Macht"
Viele halten den Kremlchef mittlerweile für verrückt. Sie schreiben in Ihrem neuen Buch "Zeitenwende", das sei falsch. Welche Ziele verfolgt er?
Wir sollten uns nicht mit der einfachen Erklärung abgeben, Wladimir Putin sei irrational oder handle gar krankhaft. Wir müssen uns klarmachen, dass er nach einer anderen Rationalität handelt. Er hatte ursprünglich zwei Ziele. Erstens, die Ukraine zu unterjochen und ihren künftigen Weg bestimmen zu können. Und zweitens, in Europa durch massiven Druck eine neue Ordnung durchzusetzen, Russlands Einfluss zu sichern und unsere Interessen schwer zu beschädigen. Inzwischen kämpft er in diesem furchtbaren Krieg auch um den Erhalt seiner Macht. Er versucht sicherzustellen, dass zu Hause nicht die Frage auftaucht, ob angesichts des Scheiterns und der dramatischen Verluste Russlands es nicht möglicherweise besser wäre, einen anderen Präsidenten ins Amt zu bringen.
Der russische UN-Diplomat Boris Bondarjew ist unlängst aus Protest gegen den Ukraine-Krieg zurückgetreten. Bröckelt der Rückhalt für Putin bereits?
Damit sollten wir nicht so schnell rechnen. Auch in der Führung herrschen Repression und Angst, wie gesagt. Das geht so weit, dass sich in der Vergangenheit einzelne Mitglieder der Führungsmannschaft vor Gericht oder im Gefängnis wiederfanden. Aber: Was Herr Bondarjew mit großem Mut gesagt hat, entspricht - glaube ich - dem Denken von vielen Angehörigen der Führungsschicht, die sich aber nicht trauen, das öffentlich zu sagen.
"Es gilt in Russland die alte Frage: Siegt der Kühlschrank oder siegt der Fernseher?"
Wie steht die russische Bevölkerung zur "Spezialoperation" im Nachbarland?
Jene, die sich auf die Nutzung des Internets verstehen, haben Zugang zu ergänzender Information, die große Menge der Bevölkerung aber nicht. Ihre Möglichkeit, sich zu informieren, liegt mittlerweile komplett in der Hand des Staatsapparates, und noch wirkt die Propaganda. Vor allem, weil Wladimir Putin ein letztes Mittel benutzt, um den Zusammenschluss herzustellen.
Welches?
Die irrwitzige Behauptung, dass in der Ukraine der Faschismus bekämpft werde, womit er eine Parallele zu 1945 herstellt. Die Frage ist nur, wie lange das gelingt. Es gilt in Russland die alte Frage: Siegt der Kühlschrank oder siegt der Fernseher? Im Moment siegt noch der Fernseher: Die Propaganda erzielt ihre Wirkung. Aber unsere gute und richtige Reaktion auf diesen Angriffskrieg, die umfassenden Sanktionen, erzeugen im Alltagsleben der Menschen Wirkung. Irgendwann sind sie vielleicht nicht mehr gewillt, das hinzunehmen - und protestieren, massiv und vernetzt. Noch sind wir nicht an diesem Punkt. Aber der Arabische Frühling oder die Orangene Revolution in der Ukraine haben gezeigt, dass es ein scheinbar beliebiger Anlass sein kann, der derartige Proteste auslöst.
Von Fritsch: "Wladimir Putin hat das Schachbrett umgeworfen"
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich 2008 erbittert dagegen gewehrt, die Ukraine und Georgien in die Nato aufzunehmen, ein Membership Action Plan wurde ihnen verwehrt. Manche sagen, das war ein Fehler, ohne den es diesen Krieg womöglich nie gegeben hätte. Was sagen Sie?
Wir dürfen nicht übersehen, dass die Ukraine seit den 1990er Jahren die Zusicherung - auch Russlands - hatte, dass die Unverletzlichkeit ihres Gebietes und ihre Souveränität respektiert werden. Das geschah im Gegenzug dazu, dass die Ukraine, damals die drittgrößte Nuklearmacht der Welt, ihre Atomwaffen aufgegeben hat. Insofern war sie vermeintlich in einer sicheren Situation. Vor diesem Hintergrund war es richtig, die Interessen und Wahrnehmungen beider Seiten zu berücksichtigen und keine vorschnellen Entscheidungen zu treffen. Stattdessen hat man der Ukraine über eine Assoziierung den Weg in die Europäische Union geebnet. Doch bereits das war der russische Präsident nicht bereit hinzunehmen und reagierte mit der Annexion der Krim.

Nun hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen der Ukraine zugesagt, ihren Aufnahme-Antrag beschleunigt zu prüfen. Die Westbalkan-Staaten hingegen warten seit Jahren, dass etwas vorangeht. Ist das fair?
Wir müssen grundsätzlich Folgendes sehen: Wladimir Putin hat das Schachbrett umgeworfen. Jene Regeln, nach denen wir mit der Sowjetunion und später mit Russland erfolgreich Sicherheit in Europa gestaltet haben - etwa Rüstungskontrolle, Abrüstungsverhandlungen oder die KSZE -, akzeptiert er nicht mehr. In diesem System waren die von uns unternommenen Züge nicht falsch. Doch Putin hat an seine Stelle die Konfrontation gesetzt. Jenseits des Grabens, den er aufgerissen hat, sitzen nun eine Reihe von Ländern in einer Art Zwischeneuropa und wir müssen alles dafür tun, dass sie eine klare Perspektive erhalten, vor allem in Richtung Europäischer Union. Auf diesem Weg darf es aber keine Rabatte geben.
Und das bedeutet?
Es ist richtig, wenn Anträge von der EU-Kommission beschleunigt behandelt werden, aber am Ende wird der Rat der Europäischen Union schon sehr genau darauf achten, dass es etwa bei der Rechtsstaatlichkeit, der Bekämpfung von Korruption, oder der Vorbereitung auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit keinen Nachlass gibt. Dann werden wir sehen, wie wir die Länder des westlichen Balkans, die Ukraine, Georgien und auch Moldau näher an die Europäische Union heranführen. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie im Schneematsch der Geschichte verbleiben und aus russischer Sicht willkommene Pufferzonen zwischen sich und uns sind. Dieses Modell des 19. Jahrhunderts dürfen wir nicht mehr akzeptieren. Es ist in zwei Weltkriegen schrecklich gescheitert.
EU-Mitgliedschaft: Von Fritsch über die Anträge Schwedens und Finnlands
Bahnt sich auf dem Balkan die nächste Krise an? Der russische Botschafter droht mit einem "Ukraine-Szenario", sollte sich Bosnien der Nato annähern. Ist das ernst zu nehmen?
Die russische Propaganda versucht beständig, massiv Einfluss auf unsere Debatten zu nehmen. Mit wolkigen, raunenden Drohungen will sie Zerrissenheit innerhalb unserer Länder und Bündnisse erzeugen - ohne dass klargestellt wird, was daraus folgt. Betrachten wir einmal die Anträge Schwedens und Finnlands auf Mitgliedschaft in der Nato: Im Vorfeld hat Russland mit schwerwiegenden militärischen und politischen Konsequenzen gedroht. Doch jetzt, wo beide Länder ihre Anträge gestellt haben, gibt sich der russische Präsident plötzlich ganz gelassen. Er ist darauf bedacht, dass die Situation gegenwärtig nicht weiter eskaliert.
Sie haben Ihr Amt in Moskau kurz nach der Annexion der Krim angetreten. Hätte die internationale Gemeinschaft schon damals härter reagieren müssen?
Sie hat auf die Annexion der Krim, den schrecklichen Krieg, der von Russland im Südosten der Ukraine ausgelöst worden ist, und den Abschuss des zivilen Flugzeugs MH17 jeweils mit großer Geschlossenheit und Entschlossenheit reagiert. Die Methode, mit der wir damals Politik gestaltet haben, war die jener Zeit, die von Russland mitgetragen wurde: einerseits auf eine Verletzung der vereinbarten Regeln massiv zu reagieren - und gleichzeitig bereit zum Dialog zu bleiben, um eine friedliche Konfliktlösung zu erreichen. Das Ergebnis war das Protokoll von Minsk, das einen diplomatischen Lösungsweg gezeichnet hat, der in Russlands Interesse gewesen wäre und den es bereit war mitzugehen. Im Rückblick kann man natürlich fragen: Hätte die internationale Gemeinschaft die Ukraine nicht früher militärisch unterstützen können? Aber es war weitestreichender Konsens, hier zurückhaltend zu sein. Manche Länder - wie Deutschland oder Frankreich - haben sich dem ganz verweigert, andere - wie Großbritannien - wollten keine tödlichen Waffen liefern, die USA wiederum nur Verteidigungswaffen.

Bleiben wir beim Thema Waffen: Wo stehen Sie in der Diskussion um die Lieferung schweren Gerätes, die gerade in Deutschland geführt wird?
Das Völkerrecht macht den, der einem Land hilft, das Opfer einer Aggression geworden ist, nicht zur Kriegspartei. Zudem unterscheidet es nicht zwischen einer Eierhandgranate und einem Düsenjet. Insofern stellt sich eher die Frage, was wir liefern können, auch mit Blick auf unsere eigene Sicherheit. Was ist geeignet, der Ukraine zu helfen? Womit können die ukrainischen Streitkräfte auch schnell umgehen? Das sind Fragen praktischer Politik, die Grundsätze sind relativ eindeutig.
"Die internationale Ordnung wird sich im Ergebnis dieses Krieges nicht fundamental ändern"
Besteht nicht die Gefahr, dass Putin irgendwann eine rote Linie überschritten sieht und dieser Krieg weiter eskaliert?
Wladimir Putin hält sich nicht mehr ans Völkerrecht. Aber es ist in seinem Interesse, nichts zu riskieren, was völlig selbstzerstörerisch wäre.
Noch telefonieren Olaf Scholz oder Emmanuel Macron mit Putin. In den baltischen Staaten werden nun Stimmen laut, wenn man jemanden international isolieren wolle, sollte man ihn auch nicht mehr anrufen. Was ist richtig?
Den Dialog hat Wladimir Putin abgebrochen. Er wollte nicht mehr reden, sondern Krieg führen. Dennoch darf man die Mittel der Diplomatie nie völlig zur Disposition stellen - so schwer das im Moment auch erscheinen mag. Russland verschwindet nicht und wir können es uns auch nicht wegdenken. Deshalb müssen wir den Blick darauf richten, dass wir in Zukunft wieder zu Lösungen kommen, wie wir sie seit den 70er Jahren praktiziert hatten: dass wir zumindest dafür sorgen, dass eine Konfrontation nicht eskaliert, dass wir sie in eine geordnete Konfrontation überführen und wieder zu Verabredungen kommen. Dazu bedarf es der Bereitschaft zur Diplomatie.
Welche Lehren sollte Europa aus all dem ziehen?
Die internationale Ordnung wird sich im Ergebnis dieses Krieges nicht fundamental ändern: Der Westen steht geschlossen zusammen. Der Globale Süden wird seine Anstrengungen fortsetzen, den Anschluss zu finden und dabei unserer Unterstützung bedürfen. Es wird weiterhin Länder wie Indien geben, die versuchen, sich zu positionieren. Und China wird dynamisch seinen Weg fortsetzen - sofern es nicht plötzlich massive Rückschläge gibt wie etwa durch die Corona-Pandemie.
Rüdiger von Fritsch: "Wir müssen in der Lage sein, eigenständig zu handeln"
Und was verändert sich?
Dieser Krieg wird Auswirkungen auf die Globalisierung haben. Wir werden einen Rückgang der engen Verflechtungen und Abhängigkeiten erleben und dürfen dabei nicht in eine neue Isolation verfallen. Auch, weil das die Interessen der Länder des Südens schädigen würde. Hinzu kommt, dass ein Mann beschlossen hat, sein Land aus der bestehenden internationalen Ordnung herauszunehmen, es in die Isolation und eine große Abhängigkeit von China zu führen - und damit womöglich ins Verderben. Er hat eine Situation der Konfrontation gewählt, auf die wir uns als Europäer einstellen müssen. Dieser Krieg muss für uns ein Weckruf sein, uns sicherheits- und außenpolitisch so aufzustellen, dass wir in der Lage sind, eigenständig zu handeln, sollte ein zukünftiger amerikanischer Präsident nicht mehr so geschlossen zum Bündnis stehen wie Joe Biden.