Zahlen zeigen: Seit Corona gibt es immer mehr Fälle von Polizeigewalt
München - Wenige Videos schockten 2021 so viele Menschen in den Sozialen Medien wie jene neunminütige Aufnahme: Sie zeigt eine Szene, die sich bereits 2020 am S-Bahnhof Isartor zugetragen hat. Ein Mann sitzt auf einer Bank und weigert sich, der Polizei seinen Ausweis zu zeigen. Nach mehreren Vorwarnungen bringen ihn die Beamten zu Boden und fixieren ihn.
Der Münchner röchelt. Ein Polizist scheint auf dem Hals des Mannes zu knien. So sieht es auf dem Mitschnitt einer Bodycam einer Beamtin aus. In der Folge wurde sowohl gegen den heute 55-jährigen Münchner als auch gegen einen Polizisten ermittelt.
Seit Corona gibt es deutlich mehr Fälle von Polizeigewalt
Kein Einzelfall. Die Zahl der mutmaßlichen Körperverletzungen im Amt ist in den Corona-Jahren im Freistaat massiv angestiegen. Das zeigen Daten des bayerischen Justizministeriums, die der AZ vorliegen. Lag die Zahl der durch die Staatsanwaltschaften erledigten Verfahren aus dem Bereich "Gewaltausübung und Aussetzung durch Polizeibeamte" im Jahr 2019 noch bei 205, waren es 2020 bereits 245. Im Jahr darauf schnellte sie dann auf 340 empor – ein Anstieg von 66 Prozent innerhalb von zwei Jahren.
Damit erreichte die Zahl der Delikte 2021 den höchsten Wert seit Einführung der Statistik im Jahr 2009. Im vergangenen Jahr sank die Zahl der Ermittlungsverfahren dann zwar auf 276, lag damit aber noch immer deutlich über der Vor-Corona-Zeit. In den Jahren 2009 bis 2019 wurden im Schnitt pro Jahr gut 240 Verfahren gezählt.

Viele Fälle stehen mit Corona-Protesten im Zusammenhang
Der Polizeirechtler Markus Thiel sieht "in den sich in den vergangenen Jahren häufenden gesellschaftlichen Konflikten eine mögliche Ursache für den Anstieg". Der Professor aus Münster sagt der AZ: "Wenn es zu mehr gewaltsamen Aufeinandertreffen der Polizei mit radikalen Gruppen kommt, nehmen in der Folge verbale und körperliche Auseinandersetzungen mit Einsatzkräften zu."
Folglich komme es zu mehr Fällen von Polizeigewalt. Er verweist etwa auf die Corona-Proteste. Thiel hält es zudem für plausibel, dass die Sensibilität für möglicherweise rechtswidrige Polizeigewalt bei vielen Menschen zugenommen habe, da in den vergangenen drei Jahren vermehrt über das Thema berichtet wurde. Zeugen oder mutmaßliche Opfer würden heute eher Anzeige erstatten.
Videobeweise helfen Opfern Anzeige zu erstatten
Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften in Hamburg, sieht eine mögliche Ursache für das Plus an Anzeigen darin, dass es immer öfter Videos von Einsätzen gebe. "Stehen allein die Aussagen des mutmaßlichen Opfers gegen die der Polizei, hat es meist keine Chance – existieren etwa Handyaufnahmen, kann es schon ganz anders aussehen", sagt Behr. Daher könnten sich nun mehr Opfer trauen, Anzeige zu erstatten.
Auch Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, sieht die Zunahme der Verfahren "vor allem einem veränderten Anzeigeverhalten geschuldet".
Klar ist: Es kommt fast nie zur Anklage gegen die Beamten – in Bayern wurden zwischen 2020 und 2022 innerhalb von drei Jahren nur fünf der 861 Verfahren wegen mutmaßlicher Polizeigewalt zur Anklage gebracht. Hinzu kamen noch fünf Anträge auf Strafbefehle. Das sind jeweils gerade einmal 0,6 Prozent. Nur in rund jedem hundertsten Fall hatte die Anzeige also eine Strafe oder einen Prozess zur Folge.

In Bayern gibt es kaum Verfahren gegen Polizeibeamte
Damit haben Anzeigen wegen mutmaßlich rechtswidriger Polizeigewalt in Bayern sogar noch weit geringere Erfolgsaussichten als anderswo in der Republik. 2021 kam es bundesweit in 61 von 2.790 Fällen (2,2 Prozent) von mutmaßlicher Polizeigewalt zu einer Anklage oder einem Antrag auf Strafbefehl – auch in den Vorjahren wurden im Freistaat mehr Verfahren eingestellt als im Bundesschnitt.
In mehr als neun von zehn Fällen sahen bayerische Staatsanwälte in den vergangenen drei Jahren schlicht keinen hinreichenden Tatverdacht. Eine Sprecherin des Justizministeriums sagt: "In der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle haben sich die Vorwürfe als substanzlos erwiesen."
Strukturelles Versagen der Polizei bei Aufklärung der Fälle
Diverse Experten monieren dagegen bei der Aufklärung von Polizeigewalt strukturelles Versagen. Viele Opfer haben ein Beweisproblem. "Polizeiaussagen gelten oft als besonders glaubhaft", sagt der Rechtswissenschaftler Benjamin Derin. Zudem komme es in der Praxis nur selten vor, dass Polizisten gegen Polizisten aussagen. Der Kriminologe Thomas Singelnstein hält es für problematisch, wenn Polizisten gegen Polizisten ermitteln. Auch zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei bestehe eine große Nähe.
Vorreitermodelle aus Dänemark von CSU abgelehnt
Behr fordert "einen komplett unabhängigen Polizeibeauftragten", der mit staatsanwaltschaftlichen Befugnissen ausgestattet ist – so wie in Dänemark. Linke und Grüne befürworten dies, Bayerns Innenminister Joachim Herrmann ist dagegen. Der CSU-Mann verweist darauf, dass in Bayern das Landeskriminalamt bei Ermittlungen gegen die Polizei zuständig ist: "Wir in Bayern überprüfen jeden Verdacht akribisch."
Im Isartor-Fall stellte die Staatsanwaltschaft München I die Ermittlungen gegen einen Beamten bereits 2022 ein – wegen fehlenden hinreichenden Tatverdachts. Dem Beamten "war ein strafbares Verhalten nicht nachzuweisen", so eine Sprecherin zur AZ. "Insbesondere die Auswertung der Bodycam-Aufzeichnungen, die anders als die in der Presse veröffentlichten Zusammenschnitte die gesamte Kontrollsituation zeigt, konnte die Schilderungen des Anzeigeerstatters nicht bestätigen."