Wieso junge Männer an U-Bahnhöfen in München Leute anquatschen: "Bist mir positiv aufgefallen"
München - Die Münchner U-Bahn-Pendler werden es vielleicht kennen: Man kommt abends von der Arbeit, muss noch schnell einkaufen gehen. Dann fällt oben an der Rolltreppe ein "Hey, du bist mir positiv aufgefallen" von einem jungen Mann, Mitte 20, im Slimfit-Anzug. Er nennt sich eigentlich anders, für diese Geschichte soll er Maximilian heißen.
"Du bist mir positiv aufgefallen": Warum junge Männer an U-Bahnhöfen Leute anquatschen
Dieses Anquatschen am U-Bahnhof ist dem AZ-Reporter in den letzten Wochen so oft passiert, dass er sich dazu entscheidet, nicht wie sonst üblich den Mann zu ignorieren, sondern stehenzubleiben und zuzuhören.
Maximilian, der junge Mann am Sperrengeschoss der U-Bahn-Haltestelle Münchner Freiheit, setzt sein Gewinner-Lächeln auf und spricht weiter: "Wie heißt du?", fragt er und stellt sich mit Vornamen vor. Ein "Was machst du beruflich?" wird hinterhergeschoben. Und dann kommt er zum Punkt: "Was sagst du zu einem Job, der dir nebenbei ein deutlich höheres Einkommen verspricht als dein bisheriger?"
Klar, das klingt verlockend. Wer würde dazu schon Nein sagen? Also tauscht der Reporter Nummern aus und verabredet sich zum "Business-Call" via Zoom. Bis dahin hält sich der Mann auf Nachfrage bedeckt, spricht lediglich von einer Tätigkeit, die man "bequem im Home-Office erledigen kann". Man habe aber "auch ein Office in der Leopoldstraße".
"Grandioser" Nebenjob mit großem Lohn versprochen: Was hinter dem System steckt
Zwei Tage später, 18 Uhr: Das erste Gespräch über Zoom mit Maximilian. Die Kamera geht an und er begrüßt freundlich. Fragt wieder, wie der Tag gelaufen ist und will mehr persönliche Informationen bekommen.
Die wichtigsten Dinge sind ausgetauscht, nun kommen Fragen wie "Was würdest du dir wünschen, wenn Geld keine Rolle spielen würde?". Und der Hinweis darauf, dass es mit dem normalen Job unmöglich sei, große Ziele zu erreichen.
Dann folgt die Vorstellung des "grandiosen" Nebenjobs, von dem Maximilian im Sperrengeschoss der U-Bahn-Haltestelle Münchner Freiheit so sehr geschwärmt hatte. Er hat laut eigener Aussage 30 Mitarbeiter in seinem Team und spricht von einem "Unternehmensaufbau ohne Risiko".
Windige Versicherungsvertreter suchen Opfer an Münchner U-Bahnhöfen
Dann wird auch Stück für Stück klarer, worum es eigentlich geht: Maximilian verkauft Versicherungen für die Ergo Versicherung. Strukturvertrieb ist der Fachbegriff dafür. Und die Ergo schon seit Jahren deswegen in den Schlagzeilen. Die "Wirtschaftswoche" bezeichnet das System als "eine Art legales Pyramidensystem". Verbraucherschützer haben die Firma bereits 2011 angezeigt.
Die "Versicherungsvermittler" wie Maximilian haben eigene Webseiten, auf denen sie Ihre Versicherungen anbieten, "Ergo Pro" heißt dieses Angebot.
Die Altersarmut sei "eines der wichtigsten Themen seiner Kunden", sagt Maximilian bei dem Gespräch. Auf Rückfrage stellt Maximilian klar, er sei selbstständiger Unternehmer in Kooperation mit der Ergo Versicherung.
"Leistungsbasiertes Karrieresystem": So locken junge Vertreter ihre Opfer an
Es sei ein "leistungsbasiertes Karrieresystem" mit insgesamt sechs Karrierestufen. Das System ist schnell erklärt: Erstmal die Familie und die Freunde mit Verträgen zur Altersvorsorge bestücken und damit schon einmal in die zweite Stufe rutschen.
Wer Maximilian und seinen Kollegen in den sozialen Netzwerken folgt, findet vermeintliche Beweise für den beruflichen Erfolg: Lauter Anfang-Zwanziger in ganz eng geschnittenen Anzügen, die mit Zigarren, Luxus-Uhren und Luxus-Sportwagen protzen. Garniert wird das ganze mit Motivationssprüchen, wie man sie sonst vom Fitnessstudio kennt.
"Es ist einfach der bestbezahlte Nebenjob, von dem ich je gehört habe", strahlt Maximilian in die Zoom-Kamera. Auf die ausführliche Erklärung zum System an sich folgt eine Einladung zum "Business Day" am kommenden Wochenende. Der soll in den Highlight Towers in der Parkstadt Schwabing stattfinden. Um 9.15 Uhr geht es los mit Speakern, Schulungen und kleinen Snacks. Für nur 95 Euro könne ich mir direkt eines der begehrten Tickets sichern.
Maximilian spricht jetzt schon 45 Minuten mit dem Reporter. Und versucht mit dem nächsten Verkäufertrick aus dem Lehrbuch, eine Zusage zu erreichen: Kamera und Mikrofon werden ausgeschaltet, es gibt eine "stille Minute". Die Minute ist vorbei, die Kameras und Mikros gehen wieder an. Die Absage des Reporters gefällt Maximilian nicht, er wird dringlicher in der Ansprache und weist immer wieder auf eine begrenzte Zahl an Plätzen hin. Trotzdem: Das Gespräch endet ohne Verkauf, die Stimmung von Maximilian ist sichtlich schlecht. Er wird sich am U-Bahnhof ein neues Opfer suchen müssen.
Versicherungsverkäufer an U-Bahnhöfen unterwegs: Das sagen MVG und die Polizei dazu
Aber darf er das überhaupt, was sagt die Münchner Verkehrsgesellschaft dazu? "Derzeit sind der MVG keine entsprechenden Aktionen bekannt", stellt ein Sprecher auf AZ-Anfrage klar. Er weist aber auf die eigene Hausordnung hin, dort ist unter Punkt 2 unter anderem zu finden, dass "der Aufenthalt für belästigendes Verhalten (z. B. Betteln) nicht gestattet" ist. Außerdem verspricht die MVG: "Wir werden den Hinweisen nachgehen und gegebenenfalls die ‚Werber*innen‘ ansprechen." Es habe schon zuvor Vorfälle gegeben, die den jetzigen sehr ähneln: "In der Vergangenheit hatten wir das schon mal, dass ein Versicherungskonzern illegal Werbeaktionen im U-Bahn-Bereich durchgeführt hat." Man habe das "seinerzeit untersagt". Auch in den hier geschilderten Vorfällen "würden wir davon ausgehen, dass in solchen Fällen Hausverbote ausgesprochen werden können", so der Sprecher.
Die Münchner Polizei rät auf AZ-Anfrage, sich bei ähnlichen Vorfällen im nächsten Polizeirevier zu melden oder in der Wache anzurufen (nicht über die 110, sondern über die Nummer der örtlichen Dienststelle). Zusätzlich gilt: keine persönlichen Kontaktdaten herausgeben und die Kontaktinformationen der Person geben lassen.
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