Vor der Wiesn in München: Das sagt der Arzt Dr. Christoph Spinner zu den neuen Corona-Varianten
München - Professor Dr. Christoph Spinner (39) ist Oberarzt am Klinikum Rechts der Isar der Technischen Universität München und Leiter der Stabsstelle Medizin und Strategie in der Ärztlichen Direktion. Er ist Facharzt für Innere Medizin und Infektiologie.
AZ: Herr Professor Spinner, auch wenn die WHO die Corona-Pandemie weltweit für beendet erklärt hat, sind ja diverse Virus-Varianten im Umlauf und sorgen wohl auch für Erkrankungen. Gibt es in Deutschland nach Ihren Informationen noch Erkrankungsfälle, die stationär oder gar intensiv behandelt werden?
CHRISTOPH SPINNER: Sars-CoV-2 hat sich quasi "eingebürgert" – es gehört damit zu den häufigeren Erregern von Atemwegsinfektionen. Natürlich gibt es derzeit Corona-Infektionen, ebenso Patientinnen und Patienten in den Kliniken und auf Intensivstationen. Allerdings ist weder die Anzahl an Atemwegsinfektionen, noch die Zahl der Krankenhausaufnahmen oder die Zahl der auf Intensivstationen behandelten Patienen mit Atemwegsinfektionen im Vergleich zu Vorpandemie-Jahren erhöht. Das heißt: Es gibt derzeit keine Hinweise für eine außergewöhnlich starke Aktivität von Erregern von Atemwegsinfekten einschließlich Corona.
Münchner Arzt Dr. Christoph Spinner: Noch immer viele Betten mit Covid-Patienten belegt
Gibt es überhaupt noch einen Überblick über Infektions- und Erkrankungsfälle? Werden überhaupt noch Infektionen und Erkrankungen gemeldet und kann das problematisch werden?
Die Zahl aller von mit Sars-CoV-2-Patienten belegten und die der freien Betten sowie die belegten und verfügbaren Betten auf Intensivstationen werden täglich an das Robert Koch-Institut (RKI) beziehungsweise an die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gemeldet. Darüber hinaus erfasst die Arbeitsgemeinschaft Influenza am RKI in einem Sentinel-Netzwerk die Zahl der Fälle von Atemwegsinfektionen, die Art der Erreger einschließlich Sars-CoV-2 sowie die Krankenhaus- und Intensivaufnahmen und macht diese Ergebnisse mindestens einmal pro Woche verfügbar.

Derzeit wird Variante "Eris" (EG.5) von der WHO als "Virusvariante von Interesse" eingestuft. Was bedeutet das?
Diese Variante verbreitet sich leichter als andere Varianten. Bisher gibt es aber keine Hinweise darauf, dass sie auch gefährlicher ist, dass sie also zu mehr Krankenhausaufnahmen führt.
Gibt es Erkenntnisse über den Verlauf von Infektionen mit zur Zeit kursierenden Virusvarianten?
Derzeit gibt es keine Hinweise, dass sich die aktuell zirkulierenden Varianten von anderen Omikron-Varianten unterscheiden.
Dr. Christoph Spinner rät: Booster-Impfungen für über 60-Jährige
Gibt es Erkenntnisse darüber, wie gut die bisherigen Impfstoffe gegen die Virusvarianten wirken?
Die neuen Impfstoffe, voraussichtlich ab kommender Saison verfügbar, werden gerade auf ihre Wirksamkeit gegen die aktuell zirkulierenden Varianten getestet. Im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass Menschen über 60 Jahren und/oder mit Risikofaktoren die Gefahr eines schweren Covid-19-Verlauf durch eine neuerliche Boosterung reduzieren können.
Empfehlen Sie also Impfungen beziehungsweise Auffrischungsimpfungen und wenn ja, für wen?
Die Ständige Impfkommission (STIKO) am RKI empfiehlt allen Menschen ab 60 Lebensjahren und/oder mit Erkrankungen des Immunsystems oder sonstigen Risikofaktoren für einen schweren Verlauf eine jährliche Boosterung. Diese wird üblicherweise im Herbst vorgenommen, weil der Schutz dann in den Wintermonaten am höchsten ist: In dieser Zeit ist die Wahrscheinlichkeit von Atemwegsinfektionen am höchsten.
Superspreader Oktoberfest? Wiederholung eines 2020-Szenarios ist unwahrscheinlich
Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass sich aus den Virusvarianten einmal eine entwickeln könnte, die erneut größere Probleme bis hin zu Lockdowns und Abstandsgebote verursacht, weil die Verläufe schwer sind und die Impfstoffe nicht funktionieren? Wie sehr müssen wir uns fürchten?
Dieses Szenario halte ich derzeit für sehr unwahrscheinlich. Die Immunkompetenz in der Allgemeinbevölkerung ist so hoch, dass der Schutz vor schweren Verläufen für Menschen mit funktionierendem Immunsystem sehr hoch ist.
Kann es sein, dass wir jetzt immer nur auf das Coronavirus schauen und dadurch andere Gefahren durch andere Krankheitserreger unterschätzen oder ganz aus dem Auge verlieren?
Diese Gefahr besteht aus meiner Sicht: Sars-CoV-2 ist aber ein Atemwegserreger unter vielen. Aus meiner Sicht gibt es viele Argumente, dass Sars-CoV-2 im Kontext anderer Atemwegsinfektionserreger betrachtet werden sollte.
Corona-Herbstwelle in München: Grippe-Impfung und Boostern nicht zu unterschätzen
Kann man aus Ihrer Sicht davon ausgehen, dass wir im kommenden Winter von einer gesundheitlichen Krise wie dieser verschont bleiben?
Atemwegsinfektionen in der Herbst- und Wintersaison sind generell sehr wahrscheinlich: In der vergangenen Saison war beispielsweise jeder Vierte in Deutschland betroffen. Bezüglich Sars-CoV-2 ist die Immunkompetenz und damit der Schutz vor einem schweren Verlauf jedoch sehr hoch. Es kommt jetzt mit Blick auf den Herbst vor allem darauf an, die Risikogruppen durch eine neuerliche Booster-Impfung zu schützen. Auch für Angehörige und für Personen im Umfeld von Menschen mit chronischen Erkrankungen kann eine Boosterung sinnvoll sein, um das Infektionsrisiko zu reduzieren.
Eine Gesundheitskrise im Ausmaß der Corona-Pandemie erwarten Sie also nicht?
Eine Überlastung des Gesundheitssystems aufgrund von Atemwegsinfektionen im Sinne einer Krise ist meiner Einschätzung nach aktuell sehr unwahrscheinlich.