Vitali Klitschko spricht zum Münchner Stadtrat: "Die Lage ist sehr dramatisch"
München - Am Freitag hat der Ältestenrat beschlossen, Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko in die Stadtrats-Vollversammlung einzuladen. Am Mittwochmorgen hat Klitschko sich aus der ukrainischen Hauptstadt zuschalten lassen.
Vitali Klitschko schildert dramatische Lage im Münchner Stadtrat
Etwa eine Dreiviertelstunde spricht er. Dann muss er Leben retten, wie er sagt. Im Norden der Stadt seien gerade wieder Bomben gefallen. "Wieder viele Verletzte, wieder viele Tote." Nach Klitschkos Rede erhebt sich der Stadtrat für Applaus. Denn kalt konnte das Gesagte niemanden im Saal lassen.
München und Kiew verbindet seit Jahren eine Städtepartnerschaft. Bürgermeister Klitschko war deshalb live per Videoschalte auf Leinwand zugeschaltet.
Vitali Klitschko: "Jede Stunde hören wir Explosionen"
Klitschko, der in Deutschland als Boxer Karriere machte, brachte damit den Krieg noch ein Stück näher in die Realität – und in dieser trägt ein Bürgermeister kein weißes Hemd und Anzug mehr, sondern einen braunen Militäranorak. Und in dieser Realität hält ein Bürgermeister Kugeln in die Kamera: Streumunition, abgefeuert von russischen Raketen, wie Klitschko sagte. "Die töten in einem Radius von 500 Metern jedes menschliche Leben." Russland führe keinen Kampf gegen das Militär. Es sei ein Genozid, ein Völkermord.
Seit Russland die Ukraine vor vier Wochen angegriffen hat, sind laut Klitschko Millionen Menschen aus der Hauptstadt geflohen. Kiew sei halbleer. "Jede Stunde hören wir Explosionen." Wie viele Menschen gestorben sind, wisse er nicht.
Doch auch auf der russischen Seite gebe es hohe Verluste. Ihm sei berichtet worden, dass 70 Tonnen Leichen nach Russland gebracht worden seien. Warum diese Gewichtsangabe? "Man kann die Menschen nicht mehr zählen", sagte Klitschko. "Weil es nur Stücke Fleisch sind, die gesammelt werden."
Dass der Krieg schnell zu Ende sein könnte – diese Hoffnung machte Klitschko nicht. Am Anfang hätten alle gedacht, dass Russland die ukrainische Hauptstadt innerhalb weniger Tage einnehmen würde. Nun, nach vier Wochen, sei Russland von diesem Ziel noch immer weit entfernt.
Klitschko: "Wir werden niemals Sklaven sein"
Klitschko erzählt von einem älteren Herren, der statt zu fliehen, um eine Waffe bittet. Er schildert, wie Künstler, Schauspieler, Ärzte, alles friedliche Berufe, wütend seien und kämpfen wollen. "In Kiew sterben die Menschen lieber, als dass wir vor einem Aggressor in die Knie gehen. Wir werden niemals Sklaven sein."
Der ehemalige Boxer erinnert auch daran, warum der Krieg überhaupt begann: weil die Ukraine Teil von Europa sein wollte. Klitschko weiß, was es heißt, in einer Diktatur zu leben: Er ist in Kirgisistan, in der ehemaligen Sowjetunion, geboren. Seine erste Sprache war Russisch.
"Wir kämpfen für Werte, für Prinzipien, die Russland gebrochen hat"
Und Klitschko weiß auch, was Propaganda bewirken kann: Sein Vater war Offizier der sowjetischen Luftwaffe. Dass die Menschen im Westen freundlich seien, habe sein Vater nie geglaubt.
Klitschko betonte mehrfach: "Wir kämpfen für Werte, für Prinzipien, die Russland gebrochen hat. Deshalb kämpfen wir auch für euch." Für ein freies Europa, denn: "Wir wissen nicht, wo die Ambition Putins endet." Schließlich seien Ungarn, Polen, Rumänien und zum Teil sogar Deutschland auch einst ein Teil des russischen Reiches gewesen.
Klitschko appelliert deshalb an Deutschland, die Ukraine nun nicht im Stich zu lassen. Weitere Hilfsgüter seien notwendig. Vor allem aber forderte er, dass Deutschland seine Wirtschaftsbeziehungen zu Russland beenden müsse. Denn Putin investiere alles Geld in die Armee.

Der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) sichert der Ukraine Solidarität zu. Wirtschaftliche Beziehungen unterhalte München mit Russland keine, so Reiter. Ganz korrekt ist das allerdings nicht: Erst vor einer Woche hatte ein Chef der Stadtwerke dem Stadtrat geschildert, dass momentan noch etwa die Hälfte der Kohle, die im Heizkraftwerk im Norden von München verfeuert wird, aus Russland stammt. Die Stadtwerke suchen bereits nach Ersatz. Doch sofort sei es nicht möglich, auf die russische Kohle zu verzichten.
OB Reiter: "Alles, was wir tun können, werden wir leisten"
Außerdem verweist der OB auf die 170 Tonnen an Hilfsgütern, die die Stadt mit einem Zug nach Kiew transportieren ließ. Anfang der Woche sind Container voller Babynahrung, Konserven, Schlafsäcke und Isomatte angekommen. Auch Krankenwagen und Feuerwehrautos wolle München spenden.
"Alles, was wir tun können, werden wir leisten", kündigt der OB an. Denn auch er ist sich sicher, dass die Ukraine nicht nur für sich selbst kämpft, sondern "für unser aller Freiheit".