Todestag von Hans-Jochen Vogel: Christian Ude erinnert sich an gemeinsame Jahrzehnte
Hans Jochen Vogel - das war in meinem Leben über ein halbes Jahrhundert eine zentrale Persönlichkeit. Bei unserer ersten Begegnung war er noch gar nicht dabei, trotzdem war sie unvergesslich.
Ich ging zur Schule und dachte mir nichts Böses, da sah ich plötzlich unseren Klassenkameraden Jörg Hunger mit seiner Pony-Frisur von der Litfaß-Säule lächeln mit dem Spruch: "Ja zu Dr. Vogel". Und dieser Herr Doktor stand hinter ihm, mit gewaltiger Haarpracht und dunkler Hornbrille.
Else Bechteler schenkte mir das Vogel-Porträt
Bei Schulbeginn fiel die ganze Klasse über Jörg her: Wie er dazu komme, einen Doktor zu empfehlen? Jörg antwortete, der Mann sei sehr jung und sehr nett, unsere Eltern könnten ihn ruhig zum Nachfolger von Thomas Wimmer wählen. Diese Idee stamme vom Fotografen des Bildes, einem Stefan Moses. Der meinte, der sehr jung geratene Kandidat sehe neben noch jüngeren Buben schon ziemlich erwachsen aus.
Die ganze Klasse fand das albern, meinte nach Doktor Vogels erstem Wahlsieg aber schon, dass sie mit Jörg dazu einen sehr bedeutsamen Beitrag geleistet habe. Als ich 2017 meinen 70. Geburtstag feierte, kam die Witwe des Jahrhundert-Fotografen Stefan Moses, die bildende Künstlerin Else Bechteler spontan zu Besuch, um mir das Original des Vogel-Porträts für den Wahlkampf 1960 zu schenken - so ein junger Bursche aber auch! Das Bild mit Jörg gibt es wohl nicht mehr.

Vogel, der verkannte Schwabing-Liebhaber
Die ersten Begegnungen mit dem leibhaftigen Hans-Jochen Vogel hatte ich dann - man glaubt es kaum - in Schwabinger Künstlerkreisen und natürlich im Rathaus. 1967 kam er zur Nikolausfeier des Seerosen- und Tukankreises, also zu den bildenden Künstlern und den Autoren der Schwabinger Szene, wo diesmal der Playboy Gunter Sachs den Nikolaus spielte, den Vogel aber auch schon einmal unter heftigem Beifall gegeben hatte (mit der "Schwabinger Gisela" als Engerl).
Die "Schwabinger" waren ihm überhaupt sehr wichtig. Den Lyriker Peter-Paul Althaus, der sich auch "Traumstadt-Dichter" und vor allem "Traumstadt-Bürgermeister" nannte, redete er freundlich als "Herr Kollege" an. 2006 durfte ich ihm den silbernen "Seerosenring" verleihen.

Die Begegnungen im Rathaus waren nüchterner. Er war in seiner zweiten Amtszeit ab 1966 nach der Wiederwahl mit fast 78 Prozent der Großmeister der Kommunalpolitik und wegen der umjubelten Olympia-Bewerbung für die Spiele von 1972 eine internationale Größe und überparteiliche Autorität, ich schrieb für den Münchner Teil der "SZ" Berichte und Kommentare auch aus dem Rathaus. Interviews waren jederzeit auch zwischen Tür und Angel möglich, er konnte jede Frage mit juristischer Präzision aus dem Stegreif beantworten und zu buchstäblich allem druckreife Antworten liefern. "Mei", sagte mein Lokalchef in der SZ, "das ist halt der einzige Kopf, den sie im Rathaus haben".
1970 wurde es plötzlich ernst
Und dann gab es nach Sympathie und Bewunderung plötzlich Konfrontation. Es war Mai 1970 - nach dem wilden Jahr 1968, nach den ersten Studentenunruhen und dem massiven studentischen Zuwachs in der SPD. Am 2. Mai demonstrierten regimetreue Griechen im Bürgerbräukeller ihre Sympathie und Zustimmung für die Athener Militärjunta. Die damals noch städtische Polizei unter Präsident Dr. Manfred Schreiber sah ebenso wie der OB, die Rechtsaufsicht und das Innenministerium keine rechtliche Handhabe gegen diese Versammlung und die Polizei musste deshalb Störversuche abwehren.
Der linke Parteiflügel nannte deshalb Hans Jochen Vogel einen "Faschistenhelfer", nicht zuletzt in der Hoffnung, dass viele seiner pragmatischen Anhänger, die man nur "Rechte" nannte, reizvolle Listenplätze räumen müssten.
Dies hat Vogel so verletzt, dass er noch Jahrzehnte später bei diesem Thema einen hochroten Kopf bekam. Beim Parteitag am 25. Mai prallten die gegenseitigen Vorwürfe mit ungeheurer Schärfe gegeneinander, ein endgültiger Bruch wurde nur knapp verhindert.
In dieser aufgeladenen Stimmung lud er mich für den Fronleichnamstag zu sich nach Hause ein, zu einem mehrstündigen Gespräch über den "Griechen-Parteitag", die Stadtratsliste und den Generationenkonflikt, der sich dahinter verbarg.
Vogels Gegenangriffe machten seinen Kritikern schwer zu schaffen
Dieses Gespräch behielten wir beide jahrzehntelang in präziser Erinnerung, ich habe den Inhalt sofort danach niedergeschrieben - es kann also nicht, wie ich meinte, 1969 stattgefunden haben, auch nicht an Christi Himmelfahrt, wie er meinte, sondern nur nach dem Griechenparteitag, der das Hauptthema war.
Vogels Gegenangriffe machten seinen Kritikern schwer zu schaffen: Es sei unverständlich, dass ausgerechnet der linke Flügel die Ansicht vertrete, die Grundrechte des Grundgesetzes stünden nur Deutschen und nicht auch Ausländern zu und die Polizei müsse bei Verboten nicht Recht und Gesetz, sondern die Meinung des Dienstherrn vertreten: "Das wäre wirklich ein Polizeistaat!"
Das saß. Natürlich konnten wir die aufgerissenen Gräben nicht überbrücken, aber wir lernten die unterschiedlichen Sichtweisen besser kennen und vereinbarten, im Gespräch zu bleiben. Was dann auch 50 Jahre lang praktiziert wurde.
Liselotte "kann das verstehen"
In den letzten Jahren, als ich auch ein "Ruheständler" mit weniger Terminzwängen war, haben wir uns dann immer öfter getroffen - wir, das waren inzwischen die beiden Alt-Oberbürgermeister und ihre Ehefrauen, Liselotte und Edith. Mal im Augustinum, mal in einer Schwabinger Kneipe, stets abwechselnd. Im Augustinum wohnten Liselotte und Hans-Jochen in einem der obersten Stockwerke, mit herrlichem Blick auf der einen Seite auf den Forst, auf der anderen auf die Stadt.

Immer wieder mal musste ich büßen, dass ich in jungen Jahren oft eine freche Lippe riskiert hatte. "Wie war das noch mit dem Null-Tarif?", wollte er einmal wissen. Immerhin war ich bei Strom und Gas dagegen gewesen, weil ich nicht einsah, dass Arbeitnehmer die Kosten tragen sollen, wenn reiche Leute ihren Swimmingpool aufheizen wollen. "Und beim Verkehr?", wollte er wissen, was er natürlich schon wusste. "Ja, da hab' ich tatsächlich mal gesagt, dass die schönste U-Bahn nichts nützt, wenn sie kein Mensch bezahlen kann, wie wir Studenten zum Beispiel!" Danach musste ich nur noch berichten, wie oft in meiner Amtszeit die MVV-Tarife angehoben worden sind. "Aber nur maßvoll", sagte ich, "und in immerhin 21 Jahren."
Bei unserem letzten Treffen Ende Januar 2020, bei dem wir Ediths Geburtstag nachträglich und seinen vorsorglich feierten, habe ich aus meinem Protokoll unseres ersten politischen Gesprächs im Mai 1970 erzählt. "Stell Dir vor, ich habe Dir damals tatsächlich gesagt, dass schon Deine Autorität für uns unerträglich gewesen sei, so haben wir damals als antiautoritäre Studenten tatsächlich gedacht!"
Da schmunzelten die beiden alten Herren, die es zusammen immerhin auf 33 Jahre an der Spitze der Stadt brachten. Aber Liselotte rief energisch dazwischen: "Das kann ich verstehen".
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