Lebendige Erinnerung: Hans-Jochen Vogels letzter Auftritt
München - Fast eineinhalb Stunden wird auf der Bühne des Café Luitpold schon gesprochen, da wird es auf einmal ganz still. Denn der Mann des Abends sitzt gar nicht auf der Bühne. Er ist im Rollstuhl in die erste Reihe geschoben worden. Jetzt wird ihm das Mikrofon gegeben. Und Hans-Jochen Vogel, der große Münchner Alt-OB, ergreift mit 93 Jahren noch einmal das Wort.
Ein Jahr ist es her, dass Vogel sein Buch zu einer Bodenrechtsreform im Salon Luitpold vorgestellt hat. Viele Gäste mögen geahnt haben, dass es sein letzter großer Auftritt werden würde. Vogel selbst schien sich da sehr sicher zu sein.
Vogel hat einen Plan B - natürlich hat er einen Plan B
Das Leben ist - noch - mühsamer geworden in den Monaten zuvor für den parkinson-kranken Alt-OB. Doch dieses eine letzte Projekt, das will er unbedingt noch durchziehen. Natürlich hat sich Vogel, wie es seine Art ist, akribisch auf alle Eventualitäten vorbereitet. "Wenn es irgendwie geht", betont er, als die AZ ihn ein paar Tage vor dem Termin im Salon Luitpold noch mal daheim im Augustinum besucht, werde er sein Buch selbst vorstellen.
Hans-Jochen Vogel: "Mehr geht nicht mehr"
Für den Fall, dass er es nicht schaffe, plane er, eine Videobotschaft zu senden. Das Buch jedenfalls werde sein letztes Projekt bleiben, sagt er an jenem Mittag in der Seniorenresidenz in Großhadern. "Mehr geht nicht mehr."
Aber dieser eine Abend im Salon Luitpold, der geht eben noch. Natürlich ist Oberbürgermeister Dieter Reiter da, er wirbt auf der Bühne engagiert für Vogels Idee, dass Bodenpreise gedeckelt werden müssten, weil die verrückte Entwicklung der Baulandpreise das ursprüngliche Übel sei, das erst zum Mietenwahnsinn führe. "Niemand wagt sich da ran", sagt Reiter an dem Abend. "Hans-Jochen Vogel hat das zu Recht entdeckt."

Vogel im Salon Luitpold: Das Publikum ist beeindruckt
Als Vogel schließlich selbst das Mikrofon bekommt, wird es dann eben ganz, ganz still im Raum. Selbst auf den Videos über den Abend, die man noch im Internet sehen kann, ist zu spüren, wie beeindruckt das Publikum ist.
Vogel sagt einleitend, es gehe hier um ein Thema, "das mir so sehr am Herzen liegt, das es mich eigentlich mein ganzes Leben lang begleitet hat". Grund und Boden seien "unvermehrbar und unverzichtbar", betont Vogel.
Er spricht druckreif und klar, gelegentlich gewitzt, zwischendurch mag man geradezu vergessen, dass hier nicht mehr der Oberbürgermeister, Bundesminister, SPD-Chef von einst um politische Mehrheiten kämpft, sondern ein Mann weit jenseits der 90 seine Ideen vorstellt.
Doch: Dem Vogel hören sie alle zu. Bis zuletzt. In dieser Stadt. Bei vielen, die etwas zu sagen haben. Und ganz besonders: in seiner SPD. An diesem Abend im Salon Luitpold sind sehr viele Sozialdemokraten da. Und alle erinnern sich auch ein Jahr später sehr gerne an diesen Abend.
OB Reiter: "Es war unser letztes Treffen"
Sie sei früh da gewesen, sehr früh, sagt etwa die scheidende SPD-Bayern-Chefin Natascha Kohnen. Zum Glück habe sie da gerade noch ein Plätzchen ergattert - auf einer Treppe. "Man hat gespürt, wie wichtig Hans-Jochen Vogel das Thema war", sagt sie. "Und es war ein unglaublicher Respekt im Publikum zu spüren."
Auch Münchens Gewerkschaftschefin Simone Burger war an jenem November-Abend ins Café Luitpold gekommen. "Hans-Jochen Vogel konnte druckreif reden, vor allem die Klarheit seiner Aussagen war bemerkenswert", sagt sie. "Diese Klarheit war auch bei seiner Buchvorstellung spürbar."
Und der Oberbürgermeister? Dieter Reiter erinnert sich noch gut und gerne: "Jener Abend im November ist mir nach wie vor sehr präsent, nicht nur weil es um ein äußerst wichtiges Thema ging, sondern weil Hans-Jochen Vogel - trotz seines hohen Alters, trotz seiner fortgeschrittenen Krankheit - so kämpferisch, so leidenschaftlich und humorvoll war."
So habe man Vogel gekannt, sagt Reiter. "Er hat das Dilemma des Wohnungsmarkts brillant auf den Punkt gebracht: Nur wenn wir endlich unser Bodenrecht ändern, es sozial gestalten, wird es möglich sein, die Wohnungskrise in den Griff zu bekommen und ausreichend bezahlbare Wohnungen zu schaffen." Reiter sagt, er denke durchaus wehmütig an jenen Abend zurück. "Es war unser letztes Treffen."
Vor einem Jahr im Café Luitpold hat Vogel ganz zum Abschuss noch gesagt: "Ich hoffe, dass ich den Anfang einer gerechten Bodenordnung noch erlebe." Das war ihm nicht mehr vergönnt. Aber viele, die bei jenem letzten Auftritt dabei waren, wollen Vogels Pläne politisch vorantreiben.
Hans-Jochen Vogel starb am 26. Juli 2020.