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Thomas-Wimmer-Haus soll abgerissen werden: Weller will weg

Die Awo will das Thomas-Wimmer-Haus abreißen. Langjährige Bewohner müssen raus. Die AZ zu Besuch bei Herrn Weller, einem Mann, der viel erlebt hat - und sich mit 80 Jahren auf ein neues Abenteuer einlassen muss.
Maria Mitrov |
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Herr Weller (Name geändert) vor dem Eingang. Hier geht er seit mehr als 20 Jahren ein und aus.
Herr Weller (Name geändert) vor dem Eingang. Hier geht er seit mehr als 20 Jahren ein und aus. © Sigi Müller

München - Den "Mercedes" parkt er im Aufenthaltsraum. So nennt Herr Weller seinen Rollator. Schwer lässt er sich auf einen Stuhl fallen. Durch das Fenster strahlt die Sonne hinein, landet fast punktgenau auf Weller. Er blinzelt und sagt als Erstes, dass er das meiste schon vergessen habe, er lacht.

Bedürftige Senioren finden hier ein Zuhause

Weller ist einer der langjährigen Bewohner des Thomas-Wimmer-Hauses, er lebt hier seit 1999. Das Haus in Laim ist Teil der Siedlung "Alte Heimat". Bedürftige Senioren finden hier eine Bleibe. Im Büro unten sitzt die psychosoziale Betreuung der Awo, sie hilft bei Anträgen und trommelt die Senioren monatlich im Aufenthaltsraum zusammen. An der Wand hängt ein gelbes Plakat mit dem Titel "Was wünschen wir uns?". Darunter steht: Gesundheit, gutes Zusammenleben.

Weller wünscht sich: endlich wegzukommen. In zwei Jahren, dann ist er 80, wird sein Zuhause abgerissen, dann entsteht in der Nähe ein Neubau, der jedoch nicht für die ehemaligen Bewohner vorgesehen ist. Sie müssen in andere Wohnungen der Siedlung. Weller kann es gar nicht schnell genug gehen: "Ich würde mich freuen, wenn ich morgen umziehen könnte."

Sozialarbeiterin vermittelte damals den Kontakt 

In seiner vorherigen Wohnung hatte Weller Ärger mit den anderen Bewohnern, jahrelang stellte er Anträge beim Wohnungsamt. Erst mit der Hilfe einer Sozialarbeiterin klappte die Vermittlung an das Thomas-Wimmer-Haus.

Bei dieser Erinnerung steigen Tränen in Wellers Augen. "Ich habe gemeint, das gibt es nicht, ich kämpfe drei Jahre und plötzlich kriege ich die Zusage." Damals störte es ihn nicht, dass er sich das Gemeinschaftsbad unten mit allen Bewohnern teilen musste. Er war Mitte 50 und fit.

Heute ist Weller 78 Jahre alt. Ihm ist ein gepflegtes Äußeres wichtig, sein dunkelgraues Haar ist feinsäuberlich gekämmt. Die blauen Augen liegen tief, beinahe wie eingedrückt, im Gesicht. Seine Hände ruhen ineinander verschränkt auf Bauchhöhe. Hin und wieder sagt er "Ja, mei!", aber sein sächsischer Dialekt tritt deutlich hervor.

Mit 18 Jahren floh er aus der DDR 

Weller wurde in der Nähe von Leipzig geboren. Als junger Bergarbeiter entschied er sich, die DDR zu verlassen - das System passte ihm nicht mehr. Im August 1961 stand die Mauer, im Oktober feierte er zu Hause mit den Eltern den 18. Geburtstag. Zwei Tage später floh er in den Westen. Bis heute versteht er nicht, wie er das geschafft hat.

Am Stacheldrahtzaun blieb er mit dem Fuß hängen, konnte sich knapp herausschlingen. Doch dann brach er zusammen. Weller senkt den Blick, spricht nicht weiter, räuspert sich. Setzt wieder an. "Auf der anderen Seite standen Menschen. Sie zogen mich durch den Zaun raus über die Grenze."

Das Thomas-Wimmer-Haus wird bald abgerissen.
Das Thomas-Wimmer-Haus wird bald abgerissen. © Sigi Müller

Weller war weg. Anderthalbjahre lebte er in Dortmund. Dann las er eine Annonce, eine Firma suchte Schweißer in München. So kam Weller in die Stadt, in der er den Großteil seines Lebens verbracht hat. Das Aufbrechen ist er gewohnt. Aber jetzt im Alter noch mal umziehen?

Weller: "Ich habe mich geschämt ins Haus zu gehen, es ist ein Schandfleck"

Abriss-Gerüchte gingen im Haus schon einige Jahre rum, doch die Bewohner wurden von der Hausverwaltung damit beruhigt, dass es nur eine Sanierung geben würde. Dann las Weller Anfang des Jahres in der Zeitung, dass der Abriss feststehe. Erst Ende März wurden die Bewohner offiziell informiert. Vor wenigen Wochen stellte Weller einen Antrag beim Wohnungsamt.

"Mir wurde gesagt, in einem anderen Neubau hier soll eine Wohnung auf mich warten!" Weller lacht, hält sich eine Hand vor den Mund, als dürfe er sich nicht zu früh freuen und tue es doch. Endlich ein eigenes Bad, das ist ihm wichtig. Das Gemeinschaftsbad meidet er. "Ich habe mich oft erkältet deswegen. Man kommt aus dem Bad und muss auf den Aufzug warten. Dann kommt jemand rein und es zieht."

Plötzlich geht seine Stimme in die Höhe, wird eindringlich: "Es ist ein Schandfleck!" Weller fuchtelt mit den Armen, zeigt in Richtung Fenster nach draußen. "Ich habe oft erlebt, wie auf der anderen Straßenseite Menschen standen. Die haben auf das Haus geschaut und gesagt: Schau mal, so dreckig, was wohnen da für Leute." Weller wechselte die Straßenseite. "Ich bin weitergegangen, weil ich mich geschämt habe, ins Haus reinzugehen!"

Freunde und Bekannte hat Herr Weller nur Wenige

Seit Jahren sind keine neuen Bewohner mehr eingezogen. 100 Menschen könnten hier leben, zurzeit ist nur etwas mehr als die Hälfte der Wohnungen belegt. Als Weller hier einzog, war das Haus gepflegter, die Leute waren ihm sympathischer. Abwehrend hebt er die Hände: "Nichts gegen andere Menschen. Aber die letzten Jahre wurde es schlimm." Abends werden trinkende Bewohner laut.

Freunde im Haus hat er nur wenige, lieber redet er mit den Leuten, die er beim Mittagessen im Alten- und Servicezentrum nebenan trifft. Gegen 11 Uhr bricht er dorthin auf, eine Stunde vor dem Essen. Er holt sich seinen Cappuccino - er sagt: "Gabutschino" - und ratscht mit den anderen Senioren. Das bedeutet Weller viel, er hat sonst keine Kontakte mehr, auch nicht mit Familienmitgliedern. "Ich bin praktisch allein." Für einen Moment schweigt er.

Dann wird es 11 Uhr und Weller schlagartig munterer. Er steht auf und geht zum Rollator. Auf dem Weg nach draußen begrüßt er eine Pflegerin, sie wünscht ihm einen guten Appetit. "Danke", ruft Weller. "Aber ich weiß ja noch gar nicht, was es heute gibt." Lachen. Draußen wird Weller ernst, dreht sich dem Gebäude zu, dessen Putz schwarz angelaufen ist. Wellers Balkon blickt auf die enge, zugeparkte Straße.

Auch andere Häuser der Siedlung werden abgerissen

Weller will weiter und geht zum Park hinter dem Haus. Der Spielplatz dort ist verwaist. Nach wenigen Minuten folgen Baustellen. Es sind weitere Häuser der Siedlung, sie werden abgerissen oder renoviert. Weller zeigt auf ein grünes Haus, in das er umziehen könnte. Davor steht das Gebäude des ASZ. Weller geht rein. In der Kantine grüßt er die Küchenmitarbeiterinnen, dann zeigt er auf den vordersten Tisch: "Mein Stammtisch seit über 20 Jahren." Auf allen Tischen stehen Namensschilder, Besteck und ein Schüsselchen Aprikosenkompott.

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Weller öffnet die Tür zur Terrasse, Zeit für die 11-Uhr-Zigarette. Draußen steht ein Tisch mit Stühlen. Eine alte Dame mit schwarzer Sonnenbrille erscheint. Sie weiß von Wellers Umzugsplänen, wünscht ihm Erfolg. Sie selbst will niemals umziehen - auch nicht in den Neubau. "Die Wohnungen dort sind zu klein. Ich habe so viele Schränke, die kriege ich nicht unter." Weller ruft: "Und all deine Männer auch nicht!" Die Dame tut empört.

"Jetzt will ich noch leben", sagt er. Und hofft auf eine Wohnung

Wellers Zigarette ist weggeraucht, vor der zweiten geht er rein, um sich seinen "Gabutschino" zu holen. Den Rollator lässt er stehen, die kurze Strecke schafft er auch so. "Schnell wie ein Wiesel", sagt die alte Dame. Er ist gern außerhalb unterwegs - Starnberg, Tegernsee, Regensburg. Bei schönem Wetter schmiert er sich Brote, packt seine kleine Tasche und wieselt los. Aber seit einem Jahr macht er das nicht mehr - die Füße. Bestimmt sagt er: "Ich will es wieder versuchen!" Schließlich kostet die Natur nichts.

Ob er ein Optimist ist? Weller überlegt lange. "Man muss es so nehmen, wie es ist." Manchmal liegt er aber nachts im Bett und fragt sich, ob er morgen noch aufstehen wird. Diesen Gedanken mag er nicht. Viele seiner jüngeren Bekannten sind gestorben. "Sie sind weg und ich bin da." Er lacht, wie verwundert, dass er hier auf dem Stuhl sitzt, immer noch. Mit fast 80 Jahren umzieht, schon wieder. Und bald eine Wohnung im grünen Haus bekommt, mit Glück. Er lehnt sich zurück, seine Augen funkeln. "Jetzt will ich noch ein bisschen leben."

Weller will nicht weg.

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6 Kommentare
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  • Mobilist am 09.05.2022 11:25 Uhr / Bewertung:

    MIt 54 Jahren könnte man das Haus mit dem selben finanzielle Aufwand sanieren wie der der Neubau, mit deutlich mehr Wohnungen, kostet. Ist immer eine Gratwanderung.

  • marshal am 10.05.2022 11:57 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Mobilist

    Allein die nicht vorhandenen Bäder dürften nicht ohne weiteres nachrüstbar sein.

  • hundundkatz am 09.05.2022 10:51 Uhr / Bewertung:

    Schon wieder mal wird ein Bunker nach 50 Jahren abrissreif. Und die heutige Bausubstanz ist kein bisschen besser. Jeder, der sich für über 5k€ je qm eine Bude kauft, sollte sich darüber im Klaren sein.

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