In Rente gehen? Diese 86-jährige Münchnerin denkt nicht dran

Viele freuen sich zehn Jahre vorher auf die Rente. Helga Mayereder ist 86 und denkt gar nicht daran. Weil sie es, seit sie die achte Klasse verlassen hat, nicht anders kennt - und auch nicht anders kann.
Helena Ott |
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Helga Mayereder strickt, wenn keine Kunden im Laden sind. Wenn welche kommen, gibt sie natürlich Tipps, wie man erfolgreich einen Schal oder Pulli hinbekommt.
Helga Mayereder strickt, wenn keine Kunden im Laden sind. Wenn welche kommen, gibt sie natürlich Tipps, wie man erfolgreich einen Schal oder Pulli hinbekommt. © Bernd Wackerbauer

München - Jetzt hat Helga Mayereder eines der teuersten Wollknäuel in ihrem Laden in der Hand. 35 Euro, Kamelhaar aus der Mongolei. Das weiß die 86-Jährige, ohne zu spicken. Die Wollknäuel stapeln sich in ihrem kleinen Laden am Nockherberg bis unter die Decke: Sockenwolle, regenwurmdicke Wolle, Zierwolle, Baumwollknäuel in allen Farben oder mehrfarbig.

Ihr langer Tresen hat eine Glasscheibe obendrauf - wie in einem Schmuckgeschäft. Dahinter steht Mayereder, graue Locken um den Kopf, aufrecht wie eine Bankangestellte. Roter Cordrock, blaue Bluse und eine selbstgestrickte rote Jacke. Den Tresen habe sie extra von einem Schreiner anfertigen lassen. "Nichtsahnend, dass ich mal über 40 Jahre dahinter stehen würde", sagt die Fachhändlerin.

Kunden kommen auch, wenn sie beim Stricken nicht weiterkommen

Bei den Dimensionen, die sie einem um die Ohren haut, schwirrt einem der Kopf. Über 60 Jahre wohnt sie in München, 45 Jahre betreibt sie "Die Handarbeitsstubn". Und, hier muss man selbst rechnen, nach der achten Klasse, also seit 70 Jahren, arbeitet sie. Und das in einer Zeit, da gerade Akademiker oft erst mit Ende 20 richtig das Arbeiten beginnen und dann spätestens mit 60 Sehnsucht nach einem Leben im Wohnmobil oder mit Schwimmteich im Garten bekommen.

In ihrer "Handarbeitsstubn" am Nockherberg findet man jede Art von Wolle.
In ihrer "Handarbeitsstubn" am Nockherberg findet man jede Art von Wolle. © Bernd Wackerbauer

Solcher Luxus ist Helga Mayereder fremd. Als sie 65 Jahre alt wurde, kam es nicht in Frage, das Handarbeitsgeschäft einfach zu schließen: So viele Stammkunden zählen auf sie. Sie kommen nicht nur zum Wollekaufen - auch wenn sie Hilfe brauchen. Sie tragen halbgestrickte Pullover in den Laden, wenn sie an den Schultern nicht weiterkommen, oder reichen Mayereder Socken, die an der Ferse verunglückt sind.

Mayereder sitzt die Krise einfach aus

Ihr Fachwissen hat die "Handarbeitsstubn" vor mancher Krise bewahrt, als zum Beispiel Stricken in den 1990er Jahren nicht mehr boomte. Helga Mayereder saß den Trendeinbruch aus. Und zur Jahrtausendwende wurde Stricken von allein wieder populär. Die Corona-Krise hat den Griff zur Nadel noch einmal verstärkt.

Vereinzelt sieht man heute sogar Männer in Zügen, Vorlesungssälen und Wartezimmern mit einem Knäuel auf dem Schoß sitzen. "Es gab schon immer Männer, die stricken", sagt die Fachhändlerin. "Früher haben sie's nur nicht zugegeben." Stattdessen seien sie dann zu ihr in den Laden gekommen und hätten so getan, als dürften sie sich Wolle aussuchen für ein paar Socken, das die Frau strickt. Von wegen!

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Helga Mayereder ist eine blitzgescheite Frau, das merkt man an ihren schnellen, koketten Antworten. Aber wenn sie noch einmal die Wahl hätte, welches Studium oder welche Ausbildung würde sie gerne machen? Jetzt überlegt sie ausnahmsweise länger. Lehrerin? Nein, Kindern was beibringen, dafür habe sie nicht die Geduld, sagt die dreifache Mutter. Ihr fällt nichts ein und sie lenkt ab, zurück zu ihren Kunden.

Wertvolle Waschtipps für Wolle

Ungefähr einmal am Tag muss die 86-Jährige einen kleinen Waschvortrag halten. "Wolle niemals in den Trockner", sagt sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Und außer waschbarer Sockenwolle auch nicht in die Waschmaschine. Stattdessen rät sie zu vorsichtigem Auswaschen, Ausspülen und dann in einem Handtuch trocken tupfen. Gerade Wollpullover gehören ausgelegt und nicht aufgehängt, damit sie sich beim Trocknen nicht verziehen.

Was sich nach vergnüglichem Kundenplausch anhört, ist trotzdem harte Arbeit. Jeden Morgen läuft die 86-Jährige von ihrer Wohnung in Untergiesing den Nockherberg hoch, in die St.-Bonifatius-Straße 2. 30 Minuten. Wenn man das Wort Taxi nur in den Mund nimmt, plustert sie empört die Backen auf, als ob Taxis nur etwas für Dax-Vorstände und Politikerinnen seien.

Wenn sie zu Fuß oben ist, sperrt sie den Laden auf und steht hinter dem Tresen. Wenn keine Kunden da sind, strickt sie. Aktuell arbeitet Mayereder an einem dunkelblauen Pullover mit aufwendigen Mustern und Zöpfen. Sie benutzt eine Holznadel mit Nylonband dazwischen. "Mit den Holznadeln schmerzen die Hände weniger", sagt sie.

8.800 Münchner über 65 Jahre arbeiten noch - mindestens

Es gibt viele Senioren, die Nebenjobs machen, um sich ihre Miete noch leisten zu können. Sie tragen Zeitungen aus oder geben Nachhilfe. Es ist meist auf Minijobbasis unter 450 Euro. Oft in Vollzeit. Genau kann man das nicht ermitteln, weil die Selbstständigen fehlen. Aber die Agentur für Arbeit gibt an, dass 8.800 Münchner über 65 Jahren noch arbeiten. Helga Mayereder ist trotzdem ein Unikat, die wenigsten Ruhestandsverweigerer werden wie sie 86 Jahre alt sein.

Seit Corona weiß sie auch, dass es die richtige Entscheidung war, nie aufzuhören. Drei Monate musste sie "Die Handarbeitsstubn" geschlossen halten. "Ich war todunglücklich", sagt Mayereder. Ihr fehlte der Kontakt zu den Kunden. "Ich bin das nicht anders gewohnt."

Auch ihre Kinder zieht sie entgegen dem Trend auf. Während im Westdeutschland der 1960er, 70er Jahre viele Mütter Hausfrauen mit kleinen Nebenjobs waren, ging Mayereder arbeiten - und zwar fast durchgehend. Zu ihrer Zeit gab es noch keine 14 Monate Elternzeit. Nach dem Mutterschutz war Schluss. Damals arbeitete sie noch als Angestellte in einem anderen Handarbeitsgeschäft. "Da bist früh in die Krippe gerannt, in die Arbeit und abends wieder das gleiche umgekehrt", sagt Helga Mayereder.

Lange galt Stricken als spießig, jetzt ist es wieder trendy, Wolle zu tragen.
Lange galt Stricken als spießig, jetzt ist es wieder trendy, Wolle zu tragen. © Bernd Wackerbauer

Ob es ihr schwerfiel, ihre drei Kinder so früh abzugeben? "Ich hab's ja nicht anders gewusst", sagt sie und zuckt mit den Schultern. Sie sagt es nicht, aber ihre Stimme hört sich jetzt belegt an. Auch als sie erzählt, dass die Krippen damals noch anders waren und die Babys vorwiegend "ins Bettchen gelegt, gefüttert und trockengelegt wurden". Fertig.

Ein Sohn ist schon in Rente, während sie noch Wolle verkauft

Helga Mayereder hat zwei Söhne und eine Tochter. Ein Sohn ist heute selbst schon in Rente, während seine Mutter noch an fünf Tagen in der Woche Wolle verkauft.

Mayereder ist im Zweiten Weltkrieg in Schulen im sächsischen Vogtland gegangen. Die erste wurde zum Lazarett umfunktioniert, die zweite zur Hälfte zerbombt. Aber sie ging weiter dort in den Unterricht. Auch im Winter 1945 - "ein greisliger Winter" in einem Schulgebäude ohne Fenster und Türen. Als sie fertig war mit der achten Klasse, floh ihr Vater vor der nächsten Diktatur. Noch bevor die Grenzen geschlossen wurden. "Zum Glück", sagt Mayereder heute, "ich glaub, die hätten mich sonst eingekerkert, weil ich meinen Mund nämlich nicht halten kann."

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In Bayern machte sie eine Lehre zur Köchin. Danach hat sie auch eine Wintersaison in München gearbeitet, 1957 war das. Wieder war es "so greislig und kalt". Die Stadt hat ihr gar nicht gefallen. Während man noch rätselt, warum sie trotzdem ein halbes Jahrhundert geblieben ist, kommt eine kecke Antwort. "Na, da lief mir so ein Mannsbild übern Weg", sagt Mayereder. Mit dem Exemplar hat sie scheinbar nicht gehadert, aber eben damit, dass es ausgerechnet in München sein musste.

"Sie können nicht aufhören"

Aber gut. Wo die junge Generation heute vor lauter Wahlmöglichkeiten manchmal zutiefst überfordert wirkt, hatte Mayereders Generation selten die Wahl.

Heute kann sie den Dialekt, hat Stammkunden aus allen Münchner Stadtteilen und bis Garching oder Ottobrunn. Manchmal beliefert sie ehemalige Münchner bis nach Berlin. Ihre Kunden sind treu, aber fordernd. "Sie können nicht aufhören", habe sie schon oft gehört. Wenn es nach ihr geht, steht Helga Mayereder noch bis 90 vor den Regalen.

Ihre drei Kinder und auch die Enkelkinder trifft sie schon regelmäßig, aber in der kleinen Wohnung in Untergiesing ist sie nun mal allein. Und das ging ja schon im Lockdown nicht gut. Also macht sie weiter: Weil sie es nicht anders kennt - und weil es ihr am meisten Freude macht.

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17 Kommentare
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  • Sarkast am 21.09.2021 20:02 Uhr / Bewertung:

    Diese Frau verdient volle Hochachtung.
    Denn sie nimmt trotz ihres Alters ihr Leben noch selbst in die Hand.
    Was man von vielen jungen Menschen, die sich auf dem Sozialkissen ausruhen, nicht sagen kann...

  • Bongo am 22.09.2021 11:28 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Sarkast

    Da sind diese Leute nicht schuld, sondern der Staat, der dieses Angebot macht. Sollte RRG kommen, wird vermutlich sogar noch ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt, so daß diese Leute nicht mehr vom Jobcenter belästig werden und nur noch zum Geldautomaten gehen müssen, um die staatlichen Leistungen abzuholen.

  • Kampf den Schwurblern am 21.09.2021 15:46 Uhr / Bewertung:

    Schöner wäre es natürlich, wenn die ältere Generation mit Ihren Renten auskommen würden und den Lebensabend geniesen könnten. Doch leider müssen sehr viele Rentener nebenbei arbeiten um Ihren Lebensunterhalt zu bewätigen.
    Aber Hauptsache die am lautesten Jammern weden sehr gut versorgt und müssen keine Flaschen sammeln oder arbeiten.

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