Sommer vor 70 Jahren - "Freude, wenn's kracht"

Hans-Jürgen Schulz, Kriegskind und AZ-Leser, erinnert sich an die schwere Zeit nach 1945 – und gefährliche Spiele.
von  Hans-Jürgen Schulz
Auch 1947 bestimmen noch Schuttberge das Straßenbild in München. Im Hintergrund sind die Türme des Rathauses zu sehen.
Auch 1947 bestimmen noch Schuttberge das Straßenbild in München. Im Hintergrund sind die Türme des Rathauses zu sehen. © Heinz Gebhardt

München - Im Januar 1946 konnten wir nach einem vorübergehenden Aufenthalt in Fürstenfeldbruck in unser neues Zuhause in der ehemaligen Luitpoldkaserne in München einziehen. In Bayern waren wir erst nach zehnmonatiger Odyssee auf der Flucht vor den anrückenden Russen aus Sagan in Schlesien angekommen. Die letzte Station vor der Ankunft in Bayern war ein kleines Nest in Thüringen, wo die Mutter uns vier Kinder – außer mir gab es den älteren Bruder Werner und die jüngeren Schwestern Sabine und Barbara – mit Feldarbeit über die Sommermonate nach dem Kriegsende durchgebracht hatte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dort war es jedenfalls, wohin unser Vater, der den Russlandkrieg an der Front zugebracht hatte, eines Tages in der letzten Novemberwoche kam, um uns abzuholen. Er reiste aus München mit einer Interzonen-Berechtigung an und durfte nur drei Tage bleiben. Natürlich war die Mutter glücklich, dass ihr Mann, unser Vater, den Krieg überlebt hatte. Gar nicht begeistert war sie aber von dem Ansinnen, dass sie alles, was sie mit täglichen Mühen an Wintervorräten eingebracht hatte, zurücklassen sollte.

Aber nach den Erzählungen des Vaters würden in der amerikanischen Zone Milch und Honig fließen. So gab sie schweren Herzens nach und überließ den größten Teil der Vorräte den Verwandten im Ort. Wir beiden Jungs hatten eigene Probleme mit dem Vater. Er war uns nicht nur ziemlich fremd geworden, sondern wir befürchteten, dass er wieder die Stellung des Familienoberhauptes einnehmen wollte. Das galt insbesondere für meinen zwei Jahre älteren Bruder, der gerade zwölf geworden war. Er war auf der Flucht und nach der Ankunft der Russen in Marienberg im Erzgebirge, wo wir uns im Mai 1945 aufgehalten hatten, in die Rolle des Organisators und Ersatz-Familienoberhaupts hineingewachsen.

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Zuerst musste er diese Stelle nolens volens übernehmen, weil keine Frau nach der Besetzung durch die russische Armee sich aus dem Hause traute. Wir Jungs waren hingegen vom ersten Tag der Besatzung an draußen unterwegs. Nach einiger Zeit genoss Werner diese Position durchaus und wollte sich in ihr behaupten.

Es half aber alles nichts, wir mussten mit. Die Fahrt dauerte mehrere Tage. Meist fand diese in eiskalten Güterwaggons statt. Etwa Mitte November kamen wir in Fürstenfeldbruck an. In der Petersen-Villa in der Nachbargemeinde Emmering fanden wir eine traumhaft schöne Bleibe. Die Villa war erbaut in einem großen, parkähnlichen Grundstück mit Eichen und Buchen. Eichhörnchen sprangen auf unser Fensterbrett. Aber bald ging es weiter nach München.

Hier fanden wir in der Luitpoldkaserne, zwischen Dachauer-, Schwere-Reiter-, Infanterie- und Lothstraße gelegen, für lange Jahre unsere neue Heimat. Als wir in die Wohnung, eine ehemalige Heeresschneiderei, einzogen, gammelten in den heruntergekommenen Räumen meterhoch Uniformreste und Wehrmachtsstoffe vor sich hin. Das Dach des Hauses war undicht, Fenster gab es schon lange nicht mehr und so war das Zeug verrottet und verschimmelt. Zu nichts mehr zu gebrauchen.

Der Vater ergattert einen Arbeitsplatz „bei den Amis“

Bald hatte der Vater mit Kameraden und durch Beziehungen besonderer Art (auf die ich noch komme) für uns eine neue Heimstatt eingerichtet. Er hatte in der damaligen Zeit einen viel beneideten Arbeitsplatz „bei den Amis“ ergattert. Er und eine Reihe ehemaliger Soldaten der Wehrmacht wurden mitsamt ihrer Fahrzeuge in den Jahren 1945 bis 1947 für die „Münchner Holzaktion“ rekrutiert. Diese hatte der damalige OB Thomas Wimmer mit dem amerikanischen Stadtkommandanten initiiert.

Sie sollte in den schlimmen drei Jahren die Münchner vor dem erfrieren bewahren. Eine erfolgreiche Geschichte, für die der „Wimmer Damerl“ bis heute von den Alten verehrt wird. Hunderte von Lkw – darunter auch amerikanische Trucks – transportierten tagtäglich Holz aus dem Ebersberger Forst und anderen Wäldern rund um München zur Theresienwiese, wo es an die Bevölkerung verteilt wurde.

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Die Staffel hatte ihren Standort auf einem anderen Kasernengelände, Dachauer- Ecke Leonrodstraße. Für uns und alle anderen, deren Väter diesen Job bei den Amis hatten, war dieser ein wahrer Glücksfall in schwerer Zeit. Unter Führung eines Colonels und der Aufsicht von gewieften Master Sergeants, die selbst die Chance zur Förderung des persönlichen Vorteils zu nutzen wussten, fiel auch für die „Krauts“ so manche Stange Lucky Strike oder Chesterfield ab.

Noch mehr profitierten wir und andere allerdings von dem abgezapften Sprit aus den eingesetzten Fahrzeugen. Wenn unser Vater oder andere Fahrer bei uns hinter dem Haus einen schnellen Zwischenstopp machten, waren mein Bruder und ich so gedrillt, dass wir sofort mit leeren Kanistern und einem langen schwarzen Schlauch anrückten, diesen im Tank versenkten und am anderen Ende zu saugen anfingen. Es musste stets schnell gehen und dabei passierte es nicht selten, dass ein Schluck von dem roten Benzin im Rachen landete. Noch heute, während ich dies niederschreibe, glaube ich, den ekligen Benzingeschmack zu spüren.

Wir werfen Patronen und Handgranaten ins Feuer

Die ehemalige Kaserne bot geradezu unbegrenzte Möglichkeiten für Abenteuer und gefährliche Spiele. Wir hatten alles zur Verfügung, was sich dumme Knaben in diesem Alter erträumten. Patronen, Granaten, Panzerfäuste, Stahlhelme, Gasmasken. Lange Zeit ging es gut mit unserem Zündeln. Wir warfen Patronen und Eierhandgranaten ins Feuer, gingen in Deckung und Freude uns, wenn es so richtig krachte.

Einmal ging eine Handgranate in einem Kamin in einer Ruine, in dem wir ein Feuerchen gemacht hatten, lange Zeit nicht los. Wir standen abseits und wussten nicht, was wir machen sollten. Längst hätten wir nach Hause gemusst. Wir wollten schon mit schlechtem Gewissen abhauen, als endlich der ersehnte Wumms kam und der halbe Kamin in die Ruine sackte.

Nicht ewig konnte solches Tun gut gehen. Eines Tages – wir marschierten in größerer Schar von der Gabelsberger Schule in unser Viertel, entlang des Bahngleises, das damals parallel zur Heßstraße in der Kaserne verlief – wollte uns einer, wir nannten ihn „Iwan“, eine besondere Granate zeigen, die er tags zuvor entdeckt hatte.

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Zwischen altem Stroh, das noch auf dem Fundament der längst verschwundenen Baracken lag, zog er eine Art Minibombe hervor. Ehe wir uns versahen, schmetterte dieser Unglücksknabe diese auf den Betonboden. Die Explosion erfolgte unmittelbar. Wir alle, es waren wegen der interessanten Ankündigung von „Iwan“ bestimmt ein Dutzend Kinder dabei, wurden von Splittern getroffen. „Iwan“ selbst war lebensgefährlich verletzt, drei andere schwer. Alle wurden zum Glück durch schnelle Notoperationen in der Nußbaumstraße gerettet.

In der „splendid isolation“ (wunderbare Isolation) der Kaserne lebten fast nur Vertriebene und Flüchtlinge. Die lukrative Anstellung der Väter bei den Amerikanern und unser ghettoähnliches Dasein waren die Hauptgründe, die dazu beitrugen, uns in den ersten Jahren von der Stadt und der bayerischen Bevölkerung weitgehend abzukapseln. Das galt vor allem für die Erwachsenen. Wir Kinder gingen bald zur Schule und bekamen nach einigen Rangeleien und Anfeindungen so nach und nach Verbindung zum Leben um uns herum und fanden auch Freunde.

Im Besäufnis singen die Männer Soldaten- und Nazilieder

Eine Bemerkung noch zur Schule: Ich hatte es vergessen, aber in einem Brief meiner Mutter vom April 1946 stand folgender Satz: „Die Jungen gehen jetzt endlich zur Schule, wir haben von den Amis Schuhe aufgetrieben, die zwar ein paar Nummern zu groß sind…“ Bis dahin hatten wir wohl barfuß laufen müssen. Was mir so richtig erst Jahre später aufging, war die Tatsache, dass viele der ehemaligen Soldaten (auch unser Vater) diese Jahre durchaus genossen. Sie hatten sich nicht entmilitarisiert, spielten uns weiterhin ihre Rolle als Soldaten und Helden vor. Sie hatten den Krieg natürlich zu Unrecht verloren. So mancher verklärte die unselige Vergangenheit – erst recht, wenn Alkohol im Spiel war. Und der floss dank des „Ami-Benzins“ reichlich. Im kollektiven Besäufnis sangen die Männer dann Soldaten- und Nazilieder.

Die Familie war für viele der ehemaligen Landser, die Frau und Kinder oft nur in den seltenen Fronturlauben sahen, eine Einschränkung in ihrer Männer- und Machowelt. Einerseits liebten sie ihre Familie, andererseits war sie eine tägliche Belastung, die sie in den Kriegsjahren von sich weggeschoben hatten.

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Schwer hatte es der Großteil der Frauen in dieser Zeit. Im Krieg hatten sie geschuftet, die Familie zusammengehalten. Bombennächte und die Flucht durchstanden und gemeistert. Und dann kamen die Männer zurück. Heute würde man viele als traumatisiert bezeichnen, nur damals kannte man weder das Wort, noch wurde den Symptomen, die es sicher gab, Beachtung geschenkt.

Das und so manches andere aus dieser Zeit ist mir in Erinnerung geblieben. Ob ich traumatisiert daraus hervorgegangen bin? Keine Ahnung.

Das distanzierte Verhältnis der Eltern zur Stadt und seinen Bewohnern wandelte sich nach und nach zum Besseren, als die Tätigkeit bei den Amerikanern auslief und die „Ghettobewohner“ sich draußen bewähren mussten.

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