So kämpft eine Mutter für ihren behinderten Sohn

München - Früher, sagt Claudia Bernert (62), sei sie immer so zuversichtlich gewesen: Dass es am Ende doch Gerechtigkeit geben kann für ihren Sohn Daniel. „Aber langsam bin ich echt frustriert.“
Wegen Behandlungsfehlern bei der Geburt ist der 30-Jährige aus Immenstadt im Allgäu schwerbehindert. Doch die Versicherung des Arztes zahlt nicht den Schadensersatz, den Bernert als angemessen empfindet. Der Streit zieht sich seit Jahrzehnten hin. Vor dem Landgericht München geht die Auseinandersetzung nun in eine neue Runde. Für die Mutter ist der neue Prozess die letzte Hoffnung.
Erst im Sommer hatte der Bundesgerichtshof ein für die Familie bitteres Urteil gefällt: Die Richter in Karlsruhe bestätigten ein Urteil des OLG München, das die Haftung der Ärzte auf 20 Prozent des Schadens begrenzt.
Gegen dieses Urteil gibt es keine juristische Handhabe mehr. Aus Verzweiflung trat die Mutter deshalb sogar eine Woche in einen Hungerstreik.
Glaubt man Bernerts Anwalt, Pierre Zimmermann, wurden die entscheidenden Fehler schon viel früher gemacht: 2002 hatte der Kinderarzt Reinhard R. ein Gutachten erstellt. Es sollte klären, ob Daniel Bernert bei der Geburt eine „schicksalhafte“, also unabwendbare Gehirnblutung erlitten hatte – oder die behandelnden Ärzte noch etwas für den Buben hätten tun können, er vielleicht bei einer schnelleren Behandlung sogar nicht behindert gewesen wäre.
R. stellte eine Gehirnblutung fest, auch wegen dieser Einschätzung ging das OLG bei seinem Urteil nicht von einem vollen Schadenersatzanspruch aus. Das Gutachten sei aber fehlerhaft gewesen, sagt Bernert-Anwalt Zimmermann. Deshalb hat die Familie Bernert R. auf Schadenersatz verklagt. Der Vorwurf: Grundlage des Gutachtens war eine Computertomografie des Gehirns von Daniel Bernert nach der Geburt, auf dem laut R. eine Gehirnblutung zu sehen ist. R. sei aber gar nicht ausgebildet gewesen, um das zu beurteilen. „Während des gesamten Verfahrens haben sich alle darauf verlassen, dass das Gutachten richtig ist“, sagt Zimmermann bei der Verhandlung. Von ihm beauftragte Gutachter sehen das aber anders. Ihrer Ansicht nach habe es in Daniels Gehirn eine Sauerstoffunterversorgung gegeben. Das sei behandelbar gewesen, wurde aber nicht rechtzeitig erkannt.
R. Anwältin, Tonja Gaibler, bestreitet, dass der Gutachter Fehler gemacht haben soll: „Wir sehen hier noch nicht einmal ansatzweise eine grobe Fahrlässigkeit.“ R. sei ein sehr gründlicher Gutachter. Bei seinem Urteil habe er sich auf den Befund eines Oberarztes verlassen. Zudem kämen die Einwände gegen das Gutachten Rs. zu spät.
So geht es im Ping-Pong-Stil eine gute Stunde hin und her. Zimmermann gibt sich hitzig, emotional, Gaibler bleibt kühl, distanziert.
Cornelia Bernert schweigt während des Großteils der Verhandlung. Sie wirkt mit ihren 1,50 Metern Körpergröße sehr klein in diesen hohen Hallen des Justizpalastes und auch ein bisschen müde, abgekämpft.
„Ich mache das für meinen Sohn“, sagt sie nach der Verhandlung. Ginge es nur um sie, hätte sie längst aufgegeben. Das Schmerzensgeld soll sicherstellen, dass Daniel auch noch gut versorgt ist, wenn sie nicht mehr da ist. Sein Vater starb 2010 an Krebs.
„Was mir am meisten zu schaffen macht, ist diese Ungerechtigkeit“, sagt Bernert. Ob ihr das jetzige Verfahren Hoffnung macht? „Mehr oder weniger.“
Bernert weiß, dass ein Sieg in erster Instanz schnell zu einer Niederlage werden kann.
Der Prozess wird fortgesetzt.
Die Chronologie des Prozesses
Claudia Bernerts Gang durch die Instanzen begann im Dezember 1992 mit einer Klage beim Landgericht Kempten. Davor hatte die Familie Bernert acht Jahre lang versucht, sich außergerichtlich mit den Versicherern der Ärzte, Pfleger, der Hebamme und des Krankenhauses zu einigen.
Das Gericht teilte den Prozess auf: Zunächst sollte geklärt werden, ob Daniel Bernert überhaupt Anspruch auf Schadenersatz hat. 1995 kam die Entscheidung: Der Familie muss voll entschädigt werden.
Weil die Allianz-Versicherung dagegen – ohne Erfolg – vor dem Oberlandesgericht München in Berufung ging, verzögerte sich die Verhandlung über die Höhe der Entschädigung. 2011 entschied das Landgericht Kempten: Daniel Bernert stehen etwa 1,3 Millionen sowie eine monatliche Rente von 3032 Euro zu.
Doch auch hier: Berufung der Versicherer. Für die Familie Bernert bedeutete das Urteil des OLG herbe finanzielle Verluste: Die Richter entschieden, dass die Ärzte nur zu 20 Prozent Schuld an der Behinderung Daniels seien. Dementsprechend reduzierten sie die Schadenersatzansprüche auf 440 000 Euro sowie eine monatliche Rente von gut 700 Euro.
Weil Claudia Bernert das nicht akzeptieren wollte, zog sie vor den Bundesgerichtshof. Doch die Richter dort entschieden am 20. Mai 2014 gegen die Mutter. Im Sommer trat die 62-Jährige in einen sechstägigen Hungerstreik vor der Allianzzentrale in München. Nach einem Schwächeanfall brach sie ab, auch, um sich wieder um ihren Sohn zu kümmern. „Es war pure Verzweiflung“, sagt sie heute.
Die Allianz verweist auf ein Vergleichsangebot über 1,8 Millionen Euro. Doch auch hier gibt es keine Einigung