Mitten in München: Mutter tritt in Hungerstreik
Seit 30 jahren kämpft Claudia Bernert um eine faire Entschädigung für ihren behinderten Sohn. Weil sie vor Gericht keinen Erfolg hatte, tritt sie jetzt in München in den Hungerstreik.
München - Am Montag hört Claudia Bernert auf zu essen. Sie tut es aus Verzweiflung und aus Liebe zu ihrem Sohn. Und sie tut es nicht irgendwo, sondern vor dem Gebäude der Allianz-Versicherung in der Königinstraße in München. Ihr Hungerstreik ist der drastische Höhepunkt eines 29 Jahre langen Streits. Claudia Bernerts Sohn Daniel ist schwerstbehindert. Ein Fehler des Klinikpersonals nach seiner Geburt ist dafür verantwortlich, sagt sie. Mehrmals bestätigen Gerichte das. Doch der Prozess zieht sich. Bis ein neues Gutachten auftaucht, das von einer Behinderung bereits bei der Geburt ausgeht – und Daniels Entschädigung plötzlich stark schrumpft.
Jetzt sieht seine Mutter keinen anderen Ausweg mehr als einen Hungerstreik. „Ich will das gar nicht“, sagt die 62-Jährige aus Immenstadt im Allgäu. „Aber ich weiß nicht, was ich sonst noch machen soll.“ Über Jahrzehnte hat sie alles versucht – vergeblich. Es geht um die Nacht auf den 14. Oktober 1984: Claudia Bernert ist in der Klinik Immenstadt kurz vor der Geburt ihres Sohnes. Die Fruchtblase platzt, grünes Wasser tritt aus. Die Hebamme und der Arzt müssten alarmiert sein, die grüne Farbe ist eine Warnung, dass dem Kind etwas fehlt. Doch der Arzt verlässt die Klinik, die Hebamme tut zunächst nichts.
Am Vormittag kommt Daniel zur Welt. Bei der Geburt kriegt er zu wenig Sauerstoff. Obwohl seine Blutwerte schlecht sind, warten die Verantwortlichen im Krankenhaus noch zwei Tage, ehe sie ihn in eine Kinderklinik verlegen. Lange werde er nicht leben, sagen die Ärzte. Heute ist Daniel 29 Jahre alt. Er ist schwerstbehindert. Seine Mutter pflegt ihn. Erst hatte sie sich mit ihrem Mann um ihn gekümmert, dafür die gemeinsame Konditorei aufgegeben. Doch Dolf Bernert starb 2010 an Krebs. Seither kämpft Claudia Bernert allein – für ein würdiges Leben ihres Sohnes und eine angemessene Entschädigung von den Versicherungen. 29 Jahre, so alt wie Daniel ist auch der Streit um die Entschädigung: Zuerst wollten sich Daniels Eltern außergerichtlich mit den Versicherern der Verantwortlichen, der Allianz und der Bayerischen Versicherungskammer, einigen. Nichts kam heraus.
1992 klagten die Bernerts das erste Mal. Es begann ein Sisyphos-Prozess. Zwar bekamen die Bernerts vor Gericht Recht. Doch das Verfahren ging von Instanz zu Instanz. Als gegen die grundsätzliche Haftung geklärt war, begann ein zweiter Prozess über die Höhe der Entschädigung und die Rente für Daniel, der von Sozialhilfe lebt. Vor dem Oberlandesgericht München dann 2013 der Schock für die Familie: Die Entschädigungssumme wird heruntergesetzt. Die Richter folgen einem Gutachten, wonach Daniel bereits vor der Geburt Hirnblutungen gehabt haben soll. Das medizinische Personal könne nur zu einem Fünftel haftbar gemacht werden.
Claudia Bernert lässt ein eigenes Gutachten anfertigen, das die Hirnblutung widerlegen soll. Ohne Erfolg. Der Bundesgerichtshof lehnt die Berufung ab. Insgesamt hat die Familie nun eine Entschädigung von 440 000 Euro bekommen, plus rund 750 Euro Rente im Monat – dabei hatte das Landgericht Kempten Daniel in einem früheren Verfahren eine Millionensumme zugestanden: Daniel Bernerts 24-Stunden-Pflege ist teuer. Für Claudia Bernert, die einst ihre berufliche Existenz für die Pflege ihres Sohnes aufgegeben hat, zählen aber nicht nur die bisherigen Kosten. „Was ist mit Daniel, wenn ich mal nicht mehr bin?“, fragt sie.
4000 Euro koste die Pflege im Monat. Wie soll das gehen? Sie weiß es nicht, sagt sie. Deshalb tritt sie in den Hungerstreik. Ab Montag um 10 Uhr vor dem Sitz der Allianz. Zuvor hat sie tausende Handzettel und Plakate verteilt. Sie hofft auf Unterstützung. Auf Anfrage der AZ verteidigt sich die Allianz. In einer Mitteilung sagt Allianz-Chef Alexander Vollert: „Das Schicksal Daniel Bernerts geht mir als Familienvater nahe. Ich kann gut nachvollziehen, dass Frau Bernert sich Sorgen um ihren Sohn macht und verstehe ihre persönliche Haltung.“ Die Familie habe allerdings ein Vergleichsangebot über 1,8 Millionen Euro ausgeschlagen.
Claudia Bernert sagt, sie habe nur andere Bedingungen für den Vergleich haben wollen. Die Versicherung sagt, sie müsse sich an das Urteil des Oberlandesgerichts München halten. Warum sie die früheren Urteile angefochten hat, anstatt ihnen zu folgen, bleibt offen. Claudia Bernert will die Versicherung nun öffentlich unter Druck setzen. Ihren Streik hat sie als Demo bereits angemeldet. Am Donnerstag hat sie nochmals mit einem Mitarbeiter der Allianz gesprochen. Gebracht hat es nichts. Man habe ihr angeboten, Getränke zu bekommen und die Toilette im Haus zu benutzen. Auch Essen könne sie haben. Das wird sie für den Hungerstreik aber nicht brauchen.