Olympia-Attentat 1972: Polizist Guido Schlosser – "Wir galten als Feiglinge"
München - Spätabends am 5. September 1972 haben die palästinensischen Terroristen des "Schwarzen Septembers" bereits zwei israelische Sportler ermordet. Nun wollen sie mit den anderen neun Geiseln vom Olympiadorf mit Hubschraubern nach Fürstenfeldbruck geflogen werden. Sie fordern ein Fluchtflugzeug und freies Geleit.
Olympia-Attentat 1972: Befreiungsaktion scheitert desaströs
Der Einsatzstab will die Geiselnehmer auf dem Fliegerhorst von Scharfschützen töten lassen und die Geiseln befreien. Letzte Option: Im Flugzeug sollen sich Polizisten verstecken und die Attentäter ausschalten. Guido Schlosser (damals 21) ist dabei. Doch fünf Minuten bevor die Terroristen landen, verlassen die jungen Polizisten fluchtartig die Maschine.
Die Befreiungsaktion scheitert schließlich desaströs. Am Ende sind alle Geiseln und ein Polizist tot. Für das Doku-Drama "1972 – Münchens schwarzer September" (Sky) stand Schlosser nun erstmals vor der Kamera. Die AZ sprach mit ihm über Verantwortung, Schuld und Fehler.

AZ: Herr Schlosser, wie haben Sie damals von der Geiselnahme im Olympiadorf erfahren?
GUIDO SCHLOSSER: Wir hatten eigentlich frei am 5. September. Am Abend davor hatten wir im Offizierscasino den Geburtstag eines Kollegen gefeiert und uns die Spiele im TV angeschaut. Gegen 3 Uhr sind wir reichlich alkoholisiert zurück in die Polizeikaserne. Um 7 oder 8 Uhr wurden wir geweckt. Wir treffen uns im Aufenthaltsraum, hieß es: Bei der Olympiade ist etwas passiert.
Wie haben Sie reagiert?
Das hat uns natürlich extrem geschockt. Wir haben Alka Seltzer getrunken und gewartet. Am Nachmittag hieß es, dass Freiwillige gesucht werden für einen Sondereinsatz.
War Ihnen klar, dass der lebensgefährlich wird?
Es hieß, dass wahrscheinlich nichts passiert. Dass die Geiselnehmer vorher ausgeschaltet werden sollen. Aber dass es auch gefährlich werden könnte. Deshalb hat man die, die verheiratet waren oder Kinder hatten, gleich aussortiert. Dann wurden wir noch mal gefragt, wer sich freiwillig meldet.

"Im Flugzeug war ein Höllenlärm"
Haben Sie gezögert?
Nein zu sagen, hätte sich keiner getraut. Man ist ja Polizist. Es haben sich sieben gemeldet, lauter Junge – so wie ich.
Sie wurden dann nach Fürstenfeldbruck geflogen.
Ja, die Hubschrauber standen vor der BGS-Kaserne in der Schwere-Reiter-Straße. Im Hubschrauber war ein Höllenlärm, die Tür war offen, wir hatten keine Ohrschützer. Die Sonne ging grad unter.
Haben Sie Angst gehabt?
Nein. Die richtige Angst ist erst im Flugzeug gekommen.
Wie ging es weiter?
Das Flugzeug ist nach 21 Uhr bereitgestellt worden, es kam von einem Inlandsflug. Wir haben uns mit den Kollegen von der Funkstreife getroffen. Die waren damals die Kings für uns, sie waren alle schon über 30. Wir sind mit Overalls der Luftwaffe eingekleidet worden.
Verkleidet als Flughafenpersonal
Warum?
Wir sollten uns als Flughafenpersonal verkleiden. Zwei von uns haben sich als Piloten zur Verfügung gestellt - die erfahrenen Funkstreifler haben sich davor gedrückt. Die Piloten waren ja wie Zielscheiben. Wenn man in die 727 stieg, kam man direkt am Cockpit vorbei.
Was war Ihre Aufgabe?
Hinter jedem zweiten Sitz ist einer von uns gekauert mit seiner Pistole in der Hand. Ein Polizeioberrat kam zu uns, hat gesagt: "Wenn jemand reinkommt - unschädlich machen!" Wir sollten den Terroristen in den Kopf schießen.
Dazu kam es nicht.
Wir haben unserem Einsatzleiter von der Funkstreife zu verdanken, dass wir da raus sind: "Das ist ein Himmelfahrtskommando", meinte er. Wir hätten in der engen Maschine gar nicht richtig schießen können. Wäre einer von uns aufgestanden, wäre er von denen dahinter getroffen worden. Und wie hätten wir die Terroristen ausschalten sollen? Sie wären ja nacheinander reingekommen. Hätten wir auf den Ersten geschossen, wären die anderen gewarnt gewesen. Unser Einsatzleiter hat gesagt: "Wenn wir gehen, dann alle! Wer ist dafür?" Wir haben uns bloß angeschaut, dann sind wir raus.
Der hat Ihr Leben gerettet...
Weiß ich nicht. Vielleicht.
Mit Politikern in der Tower-Kanzel
Wie haben Ihre Chefs reagiert?
Daran erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß noch, dass ich zum Melder der Einsatzleitung bestimmt worden war. Ich bin gleich hoch in die Tower-Kanzel, unmittelbar danach sind die Politiker und alle anderen gekommen.
Wo waren die Scharfschützen?
Sie waren nicht optimal positioniert: Drei waren auf dem Tower und zwei lagen sich genau gegenüber im Gelände nördlich vom Tower. Die Terroristen stiegen gleich aus nach der Landung.
Wer gab den Schießbefehl?
Der damalige Polizeipräsident Schreiber. Aber es war alles total chaotisch. Im Film ist das ganz gut dargestellt. Das Problem war, dass es nur ein kurzes Zeitfenster gab, in dem sechs von acht Terroristen relativ gut sichtbar waren.
War es wie im Film, dass Franz Josef Strauß, der auch im Tower war, rief, warum schießen die denn nicht?
Er hat als einer der Ersten gefragt: "Auf was wartets denn? Schießts doch endlich!"
Der schlimmste Moment
Welcher Moment da draußen war am schlimmsten für Sie?
Als die Schießerei vorbei und der eine Hubschrauber explodiert war, hat ein Kollege zu mir gesagt: "Komm, jetzt schauen wir mal nach!" Es war totale Ruhe. Niemand wusste, ob alle tot sind. Ich bin zu dem einen Hubschrauber. Wie ich da so direkt dran bin, hing da der Kopf eines toten israelischen Sportlers raus. Angst lähmte meine nächsten Schritte, krampfhaft umklammerte ich meine Pistole.
Waren Sie da allein?
Von der anderen Seite kamen auch einige Kollegen. Die entdeckten am Boden des Hubschraubers, zu den Füßen der toten Israelis, einen Geiselnehmer. Er stellte sich tot. Da jedoch die Augenlider zuckten, merkten sie schnell, dass der noch lebte. Sie zogen ihn raus und sahen, dass der auf Handgranaten gelegen hatte. Die warfen sie dann rückwärts ins Gelände. Als ich mich einigermaßen gefasst hatte und wieder bewegungsfähig war, schaute ich mich im Hubschrauber genauer um - ein schlimmer Anblick.

Sie sahen die toten Geiseln?
Ja, da treibt es mir heute noch die Tränen in die Augen. André Spitzer saß da, leicht zur Seite geneigt. In ihren Gesichtern konnte ich die große Angst, die sie sicherlich hatten, erkennen. Alle hatten mehrere Einschüsse in Brust und Extremitäten. Kopfverletzungen konnte ich keine erkennen. Das deutet darauf hin, dass der Mörder seine Waffe auf Dauerfeuer eingestellt hatte, als er die Israelis tötete.
Die Frage nach der Verantwortung
Der ganze Einsatz war ein furchtbares Desaster. Wer trägt die Verantwortung?
Die Einsatzführung hat versagt. Für mich steht einwandfrei fest, und das haben umfangreiche Recherchen ergeben, dass der Schießbefehl viel zu spät erfolgte. Es hieß, dass nicht eher geschossen werden konnte, da sonst die Besatzungsmitglieder der Hubschrauber gefährdet gewesen wären. Das halte ich für eine Ausrede.
Was war dann der Grund?
Zweifelsfrei die Tatsache, dass sich die polizeiliche Einsatzführung und die Politiker über den richtigen Zeitpunkt der Schussabgabe nicht einig waren. Das führte auch dazu, dass ein Scharfschütze am Tower kein Schussfeld mehr hatte und erst seine Position wechseln musste. Man zauderte und wartete, wie eigentlich den ganzen langen Tag.
Hat man Ihnen und Ihren Kollegen hinterher Vorwürfe gemacht, weil Sie nicht in dem Flugzeug geblieben sind?
Ein paar Tage später hat uns der Polizeipräsident zur Sau gemacht. Er sagte bissl süffisant, dass wir mehr oder weniger den Befehl verweigert haben. Er hat uns klar zu erkennen gegeben, dass wir Feiglinge waren. Das haben wir auch noch oft genug gehört von Kollegen.
Hatten Sie Schuldgefühle?
Anfangs nicht. Erst, als die Selbstzweifel gekommen sind. Da habe ich mich gefragt, ob es nicht vielleicht doch hätte klappen können. Das quält einen dann ewig. Da kommt man nicht drüber hinweg. Mit 35 habe ich psychische Probleme bekommen, Panikattacken. Ich musste auf dem Weg zur Arbeit immer am Fliegerhorst vorbei. Jedes Mal sind die Bilder aufgetaucht. Beim Hinfahren, bei der Rückfahrt. All die Jahre.

Während des Filmprojekts haben Sie Ankie Spitzer getroffen, deren Mann damals von den Terroristen ermordet wurde. Wie war das Treffen für Sie?
Das war sehr wichtig für mich. Sie hat mir keine Absolution erteilt. Die Polizei versagte in ihrer Gesamtheit, und ich gehörte ja auch dazu. Aber sie sieht es auch so, dass wir jungen Polizisten in etwas hineingetrieben wurden, das wir nicht bewältigen konnten: Wir wären eigentlich auch nur Opfer einer inkompetenten Polizeiführung und von arroganten, von sich überzeugten Politikern. Das hat mir gutgetan. Jetzt kann ich für mich ein bisschen einen Schlussstrich ziehen.
- Themen:
- Franz-Josef Strauß
- München
- Polizei