Die Wiesn 2022: Das seltsam unbekannte Wesen

Post-Pandemie, Kriegsfolgen, Inflation, Energiekrise und Zukunftsängste: In einem schwierigen Umfeld startet heute die Wiesn. Was genau das mit ihr macht, ist unklar. 2022 wird das Fest zur Wundertüte.
Thomas Müller
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Nachdem die Wiesn in München 2020 und 2021 wegen der Corona Pandemie abgesagt wurde, beginnt am 17.September das Oktoberfest 2022.
Nachdem die Wiesn in München 2020 und 2021 wegen der Corona Pandemie abgesagt wurde, beginnt am 17.September das Oktoberfest 2022. © IMAGO/Heinz Gebhardt

München - Der Münchner und sein Wiesn-Gefühl - eine immanent-ambivalente Konstante, die sich drolligerweise ja auch Zuzügler innerhalb kürzester Zeit zu eigen machen. Aber um dieses Gefühl - das nach zwei Jahren pandemischer Sause-Pause erstaunlich intakt ist - soll's hier gar nicht so sehr gehen.

Viel interessanter ist heuer die Frage: Was für eine Wiesn das nun wird in diesem wenig griabigen Umfeld aus Post-Pandemie, Kriegsfolgen, Inflation, Energiekrise und Zukunftssorgen?

Das traditionell-tragende Gefühls-Fundament hilft heuer wenig weiter: Dieses Vorfreudige, das sich ganz langsam aufbaut, am Samstag Punkt 12 den Höhepunkt erreicht, um dann (heuer) 17 Tage lang auf null abzubröckeln. Bis es am Ende heißt: Schee war's - aber no scheena, dass rum is.

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Nein, in Anbetracht der globalen Verwerfungen ist es nicht auszuschließen, dass heuer einiges, vielleicht sogar vieles völlig anders sein könnte als vor dem zähen zweijährigen Wiesn-Vakuum.

Dieses so seltsam unbestimmte Wiesn-Vorgefühl - ein bisserl vergleichbar mit dem FC Bayern, der heuer ja immer noch nicht ganz genau weiß, wo er so steht ohne Lewandowski.

Ja, neben einigen unerschütterlichen Konstanten ist die Wiesn heuer ein unbekanntes Wesen, angesichts ganz neuer Variablen. Die Wiesn 2022 - eine wahre Wundertüte.

Wiesn-Variable: Virus

Nein, gemeint ist hier nicht der Wiesn-Virus, gegen den gemeinen Wiesn-Katarrh ist eh kein Kraut gewachsen. Aber Wiesn und Corona - geht das überhaupt? 2020/21 noch undenkbar, haben sich die Zeiten geändert: Ohne Geimpft-getestet-genesen-Bandl, ohne Abstand, ohne Maske - wir sind ja wieder so frei.

Dass Karl Lauterbachs Appell, "nur getestet" auf die Wiesn zu gehen, auf Widerhall stößt, darf getrost bezweifelt werden. Nach dem Wiesn-Besuch freilich dürfte der Schnelltest-Absatz durch die Decke gehen - ebenso wie die Inzidenzen in und um München. Straubing, Erding oder Rosenheim haben's unlängst ja vorgemacht.

Für die Wiesn vielleicht ein Glück, dass die neuen Corona-Regeln erst ab 1. Oktober gelten und sie, zumindest so gesehen, mit einem blauen Auge davonkommen wird.

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Wer (getestet) ganz sicher vor Ort sein wird: Ministerpräsident Markus Söder, der vom hyper-hypochondrischen Kapitän vom "Team Vorsicht" zum vergnügungssüchtigen Feierbiest mutiert zu sein scheint. Gut 20 Bierzelt-Auftritte hat er in dem Jahr hingelegt - die FDP hat dankenswerterweise Strichliste geführt. Ein sauberes Pensum. Respekt! Beiden.

Was in Söder gefahren ist? Sicherlich eine frühe Wahlkampfeuphorie, die er intus hat. Ebenso wie offenbar den ein oder anderen Bierzelt-Booster. Aber das ist jetzt wirklich Spekulation.

Deutlich abzuzeichnen scheint sich aber, dass gar nicht so wenige der aerosol-geschwängerten Indoor-Wiesn skeptisch gegenüberstehen. Sei es, weil sie eine ihr nahestehende Risikogruppe nicht gefährden wollen - oder halt selbst zur Risikogruppe gehören. Und deshalb die Zelte drinnen erst mal meiden. Ab etwa 40, 45+ scheint da die Skepsis groß zu sein.

Wenn man sich so umhört, ist die Wiesn zwar so gut wie ausgebucht - doch haben die, die Tische ergattert haben, oft Probleme, diese mit wiesnnarrischen Spezln auch zu befüllen. Ein sehr neues Phänomen - und gut für spontane Zeltgäste, ganz nach dem Motto: Is bei Eahna vielleicht noch ein Platzerl frei?

Gut möglich, dass es heuer also gerade im Außenbereich der Bierburgen eng werden könnte - je nach Wetter.

Bleiben Augustiner und Co. am Ende gar gespenstisch leer? Eher nicht. Und das liegt sicher auch an der

Wiesn-Konstante: Wiesn-Party

Bei den Jungen (und betont Junggebliebenen) ist der Wiesn-Countdown am Handy Pflicht. Und sie zeigen in der Stadt schon länger, was es heißt, das zweijährige Party-Moratorium nach- und aufzuholen. Die Clubs sind voll wie nie - und Corona, gelinde gesagt, nicht mehr das ganz große Thema.

Meine traditionell wiesnnarrische Tochter hat schon angekündigt, heuer "Vollgas" zu geben auf der Festwiese. Was das beim Vater einer 20-Jährigen auslöst, soll hier nicht vertieft werden. Aber die Prognose liegt auf der Hand: Das Zeltpublikum wird sich in dem Jahr weiter verjüngen.

Wiesn-Variable: Wiesn-Touristen

Ja, sie sind wieder da. Fast vorpandemisches Niveau habe München wieder erreicht, sagen die Touri-Verbände. Die Fußgängerzone bummsvoll, die Hotels quasi ausgebucht. Eigentlich wie immer. Sicher, Chinesen und Russen sind rar - dafür sollen es jetzt die Amis richten. Erst recht seit ihr bockstarker Dollar punktgenau bei der Euro-Parität gelandet ist.

Zur Erinnerung: Bei der letzten Wiesn kostete der Euro noch 1,12 Dollar - 2008 übrigens sogar 1,47 Dollar. Wiesn als echtes Schnäppchen! Für Einheimische, die bekanntlich nicht vom Wechselkurs profitieren, gilt das leider weniger. Wobei - wer noch eine Handvoll Dollar daheim hat . . .

Wiesn-Konstante: Wiesn-Inflation

Ein uraltes Wiesn-Gefühl, das seit jeher stimmt: Billig war die Wiesn noch nie. Vergleicht man etwa die Preisentwicklung für einen Liter Super von 1950 bis 2010, errechnet sich ein Anstieg von 347 Prozent. Happig! Noch happiger freilich der Anstieg des Wiesnbier-Preises in dem Zeitraum: plus 942 Prozent.

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Auch sehr anschaulich eine Unicredit/HVB-Studie, die 2010 mal den "Wiesnbesucherpreisindex" (WBPI) anhand der Preise für zwei Maß Bier, ein halbes Hendl und Hin- und Rückfahrt mit dem MVV ermittelt hat.

1985 bis 2010 inflationierte die Wiesn mit schwindelerregenden 152 Prozent. Die "normale" Inflation in der Zeit? Die Hälfte. Was die Forscher zum trefflichen Fazit kommen ließ, die Wiesn sei eben eine "Sonderwirtschaftszone".

Wiesn-Variable: Inflation 2022

Sicher mit die größte Variable, die über Wohl und Wehe der Wiesn heuer entscheidet, ist die Auswirkung der hohen Inflation auf die ohnehin sehr hohen Wiesn-Preise plus Nachschlag für die beiden Jahre der Lockdown-Lücke - und die Akzeptanz dieses happigen Preis-Niveaus.

Wird der Wiesnbesucher heuer besonders preissensibel - am Ende sogar sparsam sein?

Es spricht viel dafür. Der Bierpreis ist von 11,30 (bis 11,80) auf 12,80 (bis 13,70) Euro gestiegen, bei den Speisen liegt der Aufschlag bei gut 20 Prozent. Wie das dem Wiesnbesucher wohl schmecken wird? Wenn das Spanferkel, nur so als Beispiel, in einem ganz normalen Zelt mit 31,50 Euro dotiert? Kann's einem schon mal vergehen. Und die Bratwurst aus der Hand vorm Zelt eine echte Alternative sein.

Noch völlig offen: Wie viel die pandemie-geplagten Schausteller draufschlagen. Die Krux für sie: Wenn an etwas gespart wird auf der Wiesn, dann vor allem an den Fahrgeschäften.

Wiesn-Konstante: Luxus-Wiesn

Der Luxus kennt keine Krise - er hat immer Konjunktur. Weshalb man sich ums Käfer- und Weinzelt keine Sorgen zu machen braucht. Allen Spar-Appellen zum Trotz: Die Schampus-Duschen werden laufen. Und zwar volles Rohr.

Wiesn-Variable: Kälte und Heizung

Klar, das Wetter. Die Prognosen zum Auftakt: 10 Grad und Regen. Kaltstart! Und Stimmungskiller. Heuer kommt noch eine Klitzekleinigkeit dazu: keine Heizung!

Weil ja alle Gas sparen sollen, sind die Wirte mal "mit gutem Beispiel" vorangegangen und sparen sich spontan ihre Outdoor-Heizschwammerl. Es heißt also warm anziehen - aber das gilt ja nicht bloß für die Wiesn heuer.

Wiesn-Konstante: Ozapft is!

Punkt 12 zapft er an. Und Dieter Reiter wird wieder alles daran setzen, mit nur zwei Schlägen den Wechsel in den Hirschen zu zimmern. Die Angst, dass er es in den vergangenen Jahren verlernt hätte? Eher unbegründet. Mit dem Anzapfen ist's wie mit dem Radlfahren. Wer's mal kann, verlernt's nimmer. Außerdem hat Reiter sicher wieder heimlich geübt beim Paulaner.

Immerhin eins ist klar: OB Dieter Reiter zapft an - wie hier 2019. Wie's dann weitergeht auf der Wiesn, ist aber reichlich unklar.
Immerhin eins ist klar: OB Dieter Reiter zapft an - wie hier 2019. Wie's dann weitergeht auf der Wiesn, ist aber reichlich unklar. © picture alliance/dpa

Nicht dass es ihm dann doch wieder so ergeht wie 2014 bei seiner OB-Premiere, als er auf den dritten einen völlig unnötigen vierten Sicherheitsschlag setzte, was ihm ein (für alle hörbares) und herrlich legendäres "Scheiß drauf, wurscht…" entfahren ließ.

Unterm Strich deutet heuer viel darauf hin, dass einiges völlig anders sein wird. Weniger Hype, weniger Exzess, auch freie Plätze und ganz sicher keine neuen Rekorde. Dafür ein bisserl mehr Unaufgeregtheit und wahrer Genuss. Tut der Wiesn, die ganz sicher eine sehr spezielle ist heuer, ja so schlecht auch nicht.

Wobei der Nachholfaktor nicht ganz zu unterschätzen ist. Und auch das Bedürfnis, gerade in diesen Zeiten einen draufzumachen. Wer weiß, was noch alles daherkommt? Was freilich die Ausgangsfrage - "Was werd des heier für a Wiesn?" - eindeutig beantworten würde: "Mei, Hauptsach, Wiesn werd."

Völlig frei nach dem legendären Motto: Scheiß drauf, wurscht . . .

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8 Kommentare
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  • Der wahre tscharlie am 17.09.2022 16:04 Uhr / Bewertung:

    Ein in meinen Augen mit spitzer Feder und blinzelndem Auge geschriebener Artikel.

  • Kampf den Schwurblern am 17.09.2022 13:47 Uhr / Bewertung:

    MonacoFranze
    vollkommen richtig und ein sehr guter Kommentar. Danke

  • der gute tscharlie am 17.09.2022 11:07 Uhr / Bewertung:

    Vorsicht. So ein Maß Bier kann gefährlicher sein als eine Corona-Infektion.
    Man sollte dokumentieren, ob die Gäste überhaupt damit umgehen können.

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