Münchens Vertreter in der EU: "Die Bettler sind offensichtlicher als all jene, die hier arbeiten"

München - Furchtbar weit weg kann die EU-Regierung wirken. Tatsächlich arbeitet aber auch hier in München ein Vertreter der Europäischen Kommission: Wolfgang Bücherl. Er hat sein Büro in einem Nebenbau des Europäischen Patentamts. Die AZ hat sich erklären lassen, was der Viktualienmarkt mit der EU zu tun hat, welche Kritik er am häufigsten hört und wie München von Europa profitiert.
AZ: Herr Bücherl, welches Klischee über die EU stimmt am ehesten: Außer immer mehr Bürokratie kriegt die EU nichts gebacken. Die EU-Politiker quatschen nur viel, dürfen aber eh nichts entscheiden. Deutschland muss für die EU bloß blechen, bekommt aber nichts zurück.
WOLFGANG BÜCHERL: Es stimmt wirklich gar nichts davon. Natürlich erzeugt die EU Bürokratie. Denn jedes Gesetz schafft Verwaltungsaufwand, aber das gilt für alle Gesetze, auf allen Ebenen. Oft ist es so: Die EU schafft ein neues Gesetz und die Mitgliedstaaten setzen einen drauf.
Aber es stimmt doch, dass die Gurken wegen der EU nicht mehr gekrümmt sein dürfen?
Ich weiß, das hält sich hartnäckig. Aber wir haben die Regel Ende 2008 abgeschafft. Trotzdem sind die Gurken noch gerade. Anscheinend mag der Handel gerade Gurken. So weiß man nämlich, wie viele Gurken in eine Kiste passen. Übrigens hatte die EU diese Norm auf Bitten des Handels eingeführt.
Münchens Vertreter in der Kommission: Wolfgang Bücherl als Bindeglied zwischen Bayern und der EU
Und welches Klischee stimmt am allerwenigsten?
Dass die EU nichts zu entscheiden hat. Ich persönlich schätze mal, in der Landwirtschaft gehen über 50 Prozent der Gesetze auf europäische Gesetzgebung zurück. Dazu muss man wissen: Deutschland entscheidet immer mit. Praktisch alles entscheiden EU-Parlament und Ministerrat, das sind die Fachminister aus den Mitgliedstaaten, gleichberechtigt. Deutschland als größter Mitgliedstaat hat mehr Gewicht. Übrigens: Von den aktuell 705 EU-Abgeordneten sind 96 aus Deutschland. Kein anderes Mitgliedsland hat so viele.

Sie vertreten die Europäische Kommission in München. Was machen Sie da genau?
Wir sind eine Art Bindeglied zwischen den Ländern Bayern und Baden-Württemberg und der Europäischen Kommission. Das heißt, wir vertreten einerseits die Politik der Europäischen Kommission. Umgekehrt sprechen wir aber auch viel mit Bürgerinnen und Bürgern, Medien, Schulen, Verbänden, Landesregierungen und Parlamenten. Wir nehmen Anregungen und Kritik auf und tragen sie nach Brüssel.
Was hören Sie?
Es geht zum Beispiel um Normen, die als Belastung empfunden werden. Aber ich verhandle nicht, das passiert in Straßburg und Brüssel. Ich habe eine reine Kommunikations- und Vertretungsfunktion.
Oft hat man den Eindruck, die EU ist weit weg von München. Warum ist es trotzdem wichtig, zur Wahl zu gehen?
Wie bei jeder Wahl: Wenn ich nicht wähle, wählen andere für mich. In Straßburg und Brüssel werden Entscheidungen über Dinge getroffen, die unser alltägliches Leben betreffen. Dank der europäischen Rahmengesetzgebung können wir uns, wenn wir in Italien im Urlaub sind, darauf verlassen, dass die Lebensmittelstandards die gleichen wie bei uns sind. Und wenn wir in Österreich in einen See springen, können wir sicher sein, dass das Wasser die gleiche Qualität wie zuhause hat. Auch die Grenzwerte zur Lärmbelastung und zur Luftqualität regelt die EU.
"Wenn Sie sich in München auf die Bänke am Viktualienmarkt setzen, sitzen sie quasi auf der EU"
Besonders viele interessieren sich nicht für die Wahl. Warum hat es die EU nicht geschafft, mehr Begeisterung zu wecken?
Ich glaube nicht, dass keine Begeisterung da ist. Ich bin zur Zeit in ganz Süddeutschland unterwegs. Mir fällt auf, dass ein großes Interesse da ist, aber wir können daran arbeiten, mehr Wissen zu schaffen. Oft ist es so, dass so mancher Politiker der Versuchung nicht widerstehen kann, Schwierigkeiten auf Brüssel zu schieben, aber Erfolge für sich zu beanspruchen.
In welchen Bereichen kommt man in München mit der EU konkret in Berührung?
Wenn Sie sich auf die Bänke am Viktualienmarkt setzen, sitzen sie quasi auf der EU. Denn die Bänke hat die EU im Rahmen eines Münchener Programms zur Belebung von Innenstädten unterstützt.
Nett – aber München hätte sich doch die Bänke auch selbst leisten können. Das kann nicht alles sein?
In Neuperlach fördern wir mit fünf Millionen das Projekt "Creating NEBourhoods Together". Da geht es darum, das Viertel umweltfreundlicher zu machen. Wir fördern eine Hilfe für Geflüchtete, die in ihr Heimatland zurück wollen. Wir bezuschussen ein Projekt, um Pflegekräfte aus der Türkei zu gewinnen. Wir tragen die Projekte selten zu 100 Prozent, sondern immer einen Teil. Uns ist wichtig, dass die Initiative von vor Ort ausgeht und dass die Projekte von Dauer sind.
Wie viel Geld aus der EU fließt nach München?
Das ist schwer zu beziffern. Es gibt ja nicht nur die Projekte, die die EU mit der Stadt macht. Sondern auch welche mit Münchner Firmen, Vereinen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen.
Das heißt, München profitiert vor allem von Geld?
Nicht nur. Für Münchner Firmen wie MAN, BMW, Siemens wäre Deutschland als Markt alleine zu klein. Die EU hingegen ist ein Markt mit knapp 450 Millionen Menschen. Deutschland bestreitet mehr als die Hälfte seines Außenhandels nur mit EU-Staaten.
Bücherl über Migration und Integration: "München profitiert von den Arbeitskräften, von der Expertise"
Was steht bei der Wahl auf dem Spiel?
Es geht um die grundsätzliche weitere Ausrichtung der EU, zum Beispiel um die Frage, ob wir in der Europäischen Union mehr Verantwortung im Bereich Verteidigung übernehmen wollen. Zugleich geht es um die Frage, wie wir ein Umfeld schaffen, dass unsere Unternehmen im internationalen Wettbewerb mithalten, das Klima schützen und nachhaltig sein können. Und dann wird die EU sich immer wieder mal mit der Frage beschäftigen, welche Normen und Standards abgeschafft werden können, siehe die Gurken.
Wahrscheinlich geht es in der nächsten Legislatur auch darum, wie die EU wachsen wird.
Richtig. Dass wir uns erweitern wollen, haben wir entschieden. Jetzt wurde beschlossen, Verhandlungen mit Bosnien-Herzegowina und mit der Ukraine und Moldawien zu beginnen, wobei ein Beitritt sicher noch dauern wird. Aber mit Montenegro, Nord-Mazedonien und Albanien sind die Verhandlungen schon vergleichsweise weit. Als Deutsche haben wir ein Interesse, dass diese Länder unsere Partner sind und bleiben.
Wenn man im Münchner Bahnhofsviertel unterwegs ist, sieht man vor allem viele bulgarische und rumänische Bettler. Wird von einer Erweiterung nicht noch mehr Armut angezogen?
Die Bettler sind natürlich offensichtlicher als all jene, die hier zur Arbeit gehen. Der rumänische IT-Spezialist fällt Ihnen nicht auf. Bayern und München profitieren von den Arbeitskräften, von der Expertise. Aber natürlich sind Migration und Integration auch immer eine Aufgabe. Es kann passieren, dass die Integration nicht so klappt, wie wir uns das wünschen. Aber unterm Strich profitieren wir auf jeden Fall.
Welche Hoffnungen verbinden Sie persönlich mit der Wahl?
Ich hoffe auf eine hohe Wahlbeteiligung. Wir hatten in Deutschland beim letzten Mal mit über 61 Prozent eine relativ hohe. Der EU-Schnitt lag bei 50,7 Prozent.
Wenn jeder Zweite nicht zur Wahl geht – fürchten Sie da um die Europäische Union?
Der französische Präsident Macron hat gesagt: "Die Europäische Union kann auch sterben. Wir müssen auf sie aufpassen." So ganz unrecht hat er da nicht. Es ist absolut legitim, über Inhalte zu streiten. München streitet zum Beispiel über die Frage, ob ein Tempo 30 besser ist als ein Fahrverbot. Aber deshalb stellt doch niemand in Frage, dass München eine wunderbare Stadt ist. Und so ähnlich wünsche ich mir das für die EU. Dass wir nicht immer, wenn wir uns ärgern, die Gemeinschaft verdammen, sondern sagen: Wir sind dennoch froh drum und vielleicht sogar stolz drauf.