Lederer-Piloty spricht über Kindheit in den 50ern: "Wir waren Straßenkinder"
München - Im Bombenhagel gezeugt, im München der Nachkriegszeit aufgewachsen: Der bekannte und beliebte Schwabinger Lokalpolitiker Werner Lederer-Piloty (SPD) erinnert sich an die "schwere gute Zeit" - seine Kinderjahre in Untergiesing.
Aufgewachsen in Haus mit Bombenschaden
Zu Hause gab es Grießsuppe. Orangen und Cornflakes schenkten ihm "die coolen Amerikaner" in ihren grüngrauen Jeeps. Als Junge lebte Werner, der spätere Architekt und Stadtteilfürst, mit seiner Mutter und der großen Schwester in der Schwalbenstraße 7 in Untergiesing: In einem Haus mit Bombenschaden, in zwei Zimmern.
"Die Wände waren noch ein bisschen schief", erzählt der 78-Jährige. Unter der Küchenbank hielten die Nachbarn zwei Hühner und Kaninchen.
AZ: Herr Lederer-Piloty, was ist für Sie der größte Unterschied zwischen einer Kindheit im München der Nachkriegsjahre und einer Kindheit im München von heute.
WERNER LEDERER-PILOTY: Wir waren Straßenkinder. Unbeaufsichtigt streiften wir durch die Gegend, rechts und links der Straßen waren Ruinen. Heute beobachte ich die Überprotektion von Müttern und Vätern. Es gibt Schwabinger Mamas, die bestehen darauf, ihre Grundschüler bis ins Klassenzimmer zu begleiten. Als ob diese Kinder den Gehweg nicht alleine schaffen.
Erzählen Sie von Ihren Erlebnissen im Nachkriegs-München.
Die Ruinen waren mein liebster Spielplatz. Die Optischen Werke Rodenstock waren zerbombt. In den Kellergewölben haben wir Schachteln und Geräte gefunden, darunter intakte optische Linsen, richtige Blatscharis. Wenn ich die Linse über einem Papier in die Sonne gehalten habe, hat das Papier in zehn Sekunden gebrannt. Wir haben einen regen Handel mit diesen tollen Linsen getrieben.
An der Isar ließen Sie Drachen steigen, am Kiosk gab es Marzipanstangerl zu kaufen. Das war schön. Doch die Zeiten waren recht rau.
Es gab Gangs aus Ober- und Untergiesing, die sich in der Sachsenstraße gegenüberstanden. Damals war auf der Straße kaum Verkehr. Nach einem Wortgefecht sind wir aufeinander losgegangen. Bei einem dieser Kämpfe erlitt ich im Alter von fünf Jahren einen doppelten Armbruch - durch den Schlag mit einem Schneefanggitter. Für meine Mutter war das ganz schrecklich.
Mutproben führten auch mal zu blutigen Erlebnissen
Gab es noch andere Mutproben?
Mutproben gab es viele. An der Nockherbergstraße sind wir ins Dachgeschoss von Hausruinen gekrabbelt - und von Dachbalken zu Dachbalken gesprungen. Dabei hat sich einmal ein Nagel mitten durch meinen Fuß gebohrt, wie bei Jesus. Ich erinnere mich noch an die blutige Waschschüssel zu Hause.

Hatten Sie als Bub damals ein Gefühl von Freiheit?
Nur bedingt. Mein Vater war in Lagerhaft, als Nationalsozialist, der im Krieg Bürgermeister von Freising war und Kreisleiter von München. Meine Mutter, galt als Nazigattin - nach dem Krieg war sie immer im Stress. In den ersten beiden Volksschuljahren kam ich in ein Waisenhaus nach Schäftlarn - das Klassenzimmer war ein ehemaliger Pferdestall, alle Jahrgänge in einem Raum. Damals war ich oft traurig. Die katholischen Schwestern waren sehr autoritär. Sogar im Sommer haben sie uns um 19 Uhr ins Bett geschickt und die Fensterläden verschlossen. Draußen habe ich die Vögel singen hören und in mein Kopfkissen geweint. Aber ich habe ein dickes Fell entwickelt. Ich bin Überlebenskünstler!
Mit kurzer Hose in die Kirche
Auf dem Foto aus der ersten Klasse sind Sie mit geflicktem Pullover abgebildet.
Ja, und der Kragen ist nicht gerichtet. Meine abgeschabte Lederhose hatten vor mir meine zwei älteren Brüder schon an. Bei meiner Kommunion war ich der einzige, der in kurzer Hose mit Kniestrümpfen zur Kirche kam. Das war peinlich.

Später waren Sie modisch mehr auf der Höhe.
Ich war der erste in München mit echten Jeans. Meine Schwester hat in New York gelebt. 1949 hat sie für mich aus Amerika eine Lee-Jeans mitgebracht, die genau gepasst hat. Dazu noch ein blaues Cordsamthemd. Ich bin beneidet worden von meinen Klassenkameraden im Gymnasium.
"Straßen waren unsere Spielplätze"
Sie haben drei Söhne und bald vier Enkel. Wie ist es, heute in München Kind zu sein?
Wir haben München mit unseren Kindern erlebt. Ich meine, noch gibt es Fluchtmöglichkeiten aus den ausgestanzten und fest gefügten Räumen - aber es sind nicht mehr viele. Kinderspielplätze mit vorgefertigten Geräten sind eine andere Nummer als die Ruinen, in denen ich gespielt habe. Damals war alles ungenauer. Es gab kaum Verkehr. Straßen waren unsere Spielplätze. Wir brauchten nur ein paar Stecken und Handtücher - und haben Zirkus gespielt. Aus alten Brettern haben wir uns Lager gebaut, und es gab Fundstücke, die die Fantasie angeregt haben. Im Schwabing der 50er Jahre war dort, wo heute das Lustspielhaus ist, ein großes Kino. Als Oberschüler habe ich dort die Filme "Die Brücke" und "Kinder des Olymp" gesehen.
Getanzt haben Sie auch?
Wo Live-Bands gespielt haben, habe ich als Student geschwoft. Weltstars des Jazz spielten im Domizil. An die Diskotheken mit ihrer Musik aus der Dose konnte ich mich nie gewöhnen. Ende der 70er Jahre wurde Schwabing proletig: "Rotlichtmilieu ohne Prostituierte" hat eine Zeitung geschrieben. Jetzt ist die Sündhaftigkeit weg. Auch das Dumpfe, die Absturz- und Saufkneipen. Heute ist Schwabing entspannt, die jungen Wirte sind kultivierter, stylischer und haben Konzepte.
Lässig, lockere Erziehung über Helikoptereltern
Was beobachten Sie bei jungen Schwabinger Familien?
Die Kinder heutzutage sind überbehütet. Wenn ein Kind hinfällt, stürzt die Mutter sofort hin. Wenn unsere Jungs hingefallen sind, haben wir zunächst überhaupt nicht reagiert. Nur, wenn es dann schlimm war. Als Eltern haben wir es eher lässig und locker angehen lassen.
Wie denken Sie über Erziehung?
Man sollte die Kinder mehr lassen. Dinge sollen sich von selbst entwickeln. Heute gibt es das geförderte Kind: Zwischen Sport und Ballett ist es voll durchorganisiert. Als Straßenkinder nach dem Krieg haben wir uns viel selber beigebracht. Wir haben Sachen erfunden. Wir waren in der Gruppe und haben gelernt, uns durchzusetzen.
Bitte mehr Open Spaces!
Gibt es einen Wunsch für die Kinder in München?
In Neubaugebieten wie der Bayernkaserne werden Open Spaces gebaut, das sind ungenauere Orte, wo nicht alles bis zum Ende - bis zum letzten Stein - durchgeplant ist. Wir brauchen mehr solcher Orte. Das sollen auch keine Abenteuerspielplätze sein, sondern einfach Wiesen, wo am Wochenende vielleicht ein Zelt aufgestellt werden kann. Ein Teich ist immer schön. Aber bei solchen Ideen kommen sofort die Juristen mit ihren Haftungsfragen: Was ist, wenn ein Kind dort verunglückt? Das stört mich gewaltig. Am Schwabinger Tor verläuft zum Beispiel ein Bach, der aus diesem Grund eingezäunt ist.

Haben Sie noch eine Idee für Kinder?
Im sozialen Wohnungsbau plädiere ich für wesentlich größere Kinderzimmer. Heute sind die nur zehn Quadratmeter groß. Als Architekt empfehle ich für die Zukunft 15 bis 16 Quadratmeter - damit Kindern neben Bett, Tisch und Schrank ein Spielfeld bleibt. Von mir aus auch zu Ungunsten des Wohnzimmers, wo die Eltern vor dem Fernseher sitzen.
"Dachflächen sind wertvoll"
Bei Neubauten fordern Sie, dass sämtliche Dächer Gärten sind. Was möchten Sie noch für die junge Generation?
Die vielen Dachflächen sind wertvoll. Außerdem ist es eine Riesenaufgabe den Individualverkehr in München zu bändigen, aber ohne Verbot. Was die Bildungspolitik betrifft: In der Schule bin ich für die völlige Abkehr vom Frontalunterricht.
München ist eine heile Welt. Die Welt Ihrer Nachkriegskindheit war ganz und gar nicht fertig.
Jetzt können wir ja schlecht sagen, haut die Häuser wieder kaputt, damit man drinnen spielen kann. In meiner Kindheit war wirklich nichts vorgegeben, im Gegensatz zu heute. Wie Jäger und Sammler haben wir die Stadt erkundet. Ich kannte Mordlust, hatte eine Steinschleuder. Wir haben Steine auf Tauben geworfen. In Unterschlupfen aus herumliegenden Materialien sind wir beieinander gehockt und haben gequatscht - und uns ge-neckt. Erstaunlicherweise war ich als Kind schon auf eine Art verliebt. Da gab es das blonde Nachbarskind in Untergiesing...
Braucht München also mehr Streif-Räume für Kinder?
Sogenannte Open Spaces sollen entstehen, damit sich Kinder dort unbeaufsichtigt aufhalten können. Ohne Aufsicht, das ist mir ganz wichtig! Ich hoffe, dass uns das in der Bayernkaserne gelingt.
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