Im Ausnahmezustand: Wird Hubert Aiwanger ein antisemitisches Flugblatt zum Verhängnis?

Stolpert der Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger über ein 35 Jahre altes antisemitisches Flugblatt? Die Meinungen über die nötigen Konsequenzen gehen auseinander.
Ralf Müller, Heidi Geyer |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
87  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Hubert Aiwanger (Freie Wähler) bei seiner Rede am Gillamoos im Vorjahr.
Hubert Aiwanger (Freie Wähler) bei seiner Rede am Gillamoos im Vorjahr. © Daniel Kahrmann/dpa

München - Zunächst sah es so aus, als ob die bayerische Landespolitik durch einen Bericht der "Süddeutschen Zeitung" sechs Wochen vor der Landtagswahl gehörig durcheinandergewirbelt würde – mit unabsehbaren Folgen. Der stellvertretende Ministerpräsident und Spitzenkandidat der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, soll in seiner Zeit als Schülersprecher vor 35 Jahren ein ganz übles antisemitisches Machwerk verfasst haben. Doch 24 Stunden später sah die Sache etwas anders aus.

Die "SZ" hatte ein anonymes Flugblatt ausgegraben, das im Schuljahr 1987/88 an einem Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg kursierte. Darin wurde zu einem "Bundeswettbewerb" unter dem Motto "Wer ist der größte Vaterlandsverräter?" aufgerufen. Bewerber sollten sich im KZ Dachau zu einem Vorstellungsgespräch melden. Als erster Preis wurde ein "Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz" in Aussicht gestellt und genau mit diesem Duktus ging es weiter.

Antisemitisches Flugblatt: Bruder von Hubert Aiwanger gibt sich als Urheber zu erkennen

"Menschenverachtend, geradezu eklig", beurteilte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) das Pamphlet und niemand widersprach ihm. Selbst wenn Aiwanger damals erst 17 Jahre alt war, der Tobak war so stark, dass er ihn politisch wohl schwerlich überleben würde, so die allgemeine Einschätzung. Das änderte sich am Samstagabend, als Aiwanger seine Ankündigung einlöste, dass sich der wahre Urheber zu erkennen geben würde. Und tatsächlich meldete sich sein Bruder.

Er sei sauer gewesen, weil er eine Klasse habe wiederholen müssen, begründete Helmut Aiwanger die Aktion, von der er sich gleichzeitig "in aller Form" distanzierte. Damit bot er auch eine Erklärung dafür an, warum sein Bruder Hubert sich damals gegen die Vorwürfe nicht verteidigt und die Strafe, nämlich ein Referat über den Nationalsozialismus, unwidersprochen auf sich genommen hatte.

Lesen Sie auch

Hubert Aiwanger (Freie Wähler) wollte seinen Bruder nicht "verpfeifen"

Er habe seinen Bruder nicht "verpfeifen" wollen, erklärte der heutige Vize-Ministerpräsident, in dessen Schultasche laut Aiwanger "ein oder wenige Exemplare" des Pamphlets gefunden wurden. "Als Ausweg wurde mir angeboten, ein Referat zu halten. Dies ging ich unter Druck ein. Damit war die Sache für die Schule erledigt. Ob ich eine Erklärung abgegeben oder einzelne Exemplare weitergegeben habe, ist mir heute nicht mehr erinnerlich. Auch nach 35 Jahren distanziere ich mich vollends von dem Papier."

Somit lieferten die Aiwangers auch eine Begründung, warum das antisemitische Flugblatt offenkundig mit derselben Schreibmaschine verfasst war, mit der Hubert Aiwanger später seine Facharbeit tippte. Das nämlich hatte die "SZ" auch herausgefunden.

Saskia Esken (SPD) fordert Rauswurf von Hubert Aiwanger

Freilich gibt es Schwachstellen in Aiwangers Verteidigung: Warum hat er den Sachverhalt nicht gleich aufgeklärt, als die "SZ" ihn im Zuge der Recherchen befragte? Hat er einzelne Exemplare weitergegeben? Hätte man von dem 17-jährigen Hubert verlangen können, die Aktion seines Bruders zu stoppen? Warum sagte Helmut Aiwanger nicht explizit, dass Hubert in keiner Weise am Flugblatt mitgearbeitet hatte?

Ungeachtet der zunächst unwiderlegten Sachdarstellung der Aiwanger-Brüder zeigten sich die Gegner weiterhin empört, vor allem die SPD. Deren Vorsitzende Saskia Esken forderte unbeeindruckt von den neueren Informationen den Rauswurf Aiwangers: "Selbst wenn Aiwanger das Flugblatt nicht selbst verfasst, aber mit sich getragen und verteilt haben sollte, lassen die widerlichen und menschenverachtenden Formulierungen Rückschlüsse auf die Gesinnung zu, die dem zugrunde lag."

SPD-Chefin Saskia Esken zeigt sich von der Erklärung Aiwangers unbeeindruckt.
SPD-Chefin Saskia Esken zeigt sich von der Erklärung Aiwangers unbeeindruckt. © Michael Kappeler/dpa

"Keine Jugendsünde": Florian von Brunn will Sondersitzung des bayerischen Landtags

Der bayerische SPD-Vorsitzende und Landtags-Spitzenkandidat Florian von Brunn hatte umgehend eine Sondersitzung des in die Sommerpause vor der Wahl gegangenen Landtags zum Thema Aiwanger gefordert. Brunn blieb am Sonntag bei dieser Forderung. "Das Flugblatt ist keine Jugendsünde", so der SPD-Landesvorsitzende.

"Es verunglimpft auf abscheuliche Weise die Opfer von Holocaust und Nazi-Diktatur. Das sage nicht ich, sondern der Zentralrat der Juden. Hubert Aiwanger war offensichtlich gemeinsam mit seinem Bruder für das abscheuliche Flugblatt, dessen Besitz sowie Verbreitung mitverantwortlich." Es sei für ihn "unvorstellbar", dass Söder "weiter mit jemandem kooperiert und koaliert, der den Besitz bestätigt und die Verbreitung nicht leugnen kann".

SPD-Spitzenkandidat Florian von Brunn will das Aiwanger-Thema in den Landtag bringen.
SPD-Spitzenkandidat Florian von Brunn will das Aiwanger-Thema in den Landtag bringen. © IMAGO / Smith

Freie Wähler sehen Kampagne gegen Chef Hubert Aiwanger

Für die bayerischen Spitzenkandidaten der Grünen Katharina Schulze und Ludwig Hartmann sind noch viele Fragen und Erinnerungslücken offen, die geklärt werden müssen. "Warum hatte Hubert Aiwanger das Flugblatt denn in der Schultasche? Das hat er ja nun nicht mehr abgestritten", sagte Schulze.

Jetzt sei Söder am Zug. "Ich möchte von Markus Söder wissen, ob ihm die Erklärungen Hubert Aiwangers ausreichen, um die Zusammenarbeit fortzusetzen. Da kann er jetzt nicht auf Tauchstation gehen." Bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe hatte der Ministerpräsident am Sonntag noch keine Stellung genommen.

Die bayerischen Grünen um Katharina Schulze (li.) und Ludwig Hartmann fordern ein Eingreifen von Ministerpräsident Markus Söder (CSU).
Die bayerischen Grünen um Katharina Schulze (li.) und Ludwig Hartmann fordern ein Eingreifen von Ministerpräsident Markus Söder (CSU). © IMAGO / Rolf Poss

In einer eilends am Samstag zusammengerufenen Krisensitzung der Spitzen von Partei und Fraktion der Freien Wähler stärkte man dem Spitzenkandidaten nach seinen Erklärungen den Rücken.

Es sei "umso bemerkenswerter, welche Kampagnen sechs Wochen vor wichtigen Wahlen gegen uns gefahren werden, nachdem wir Freie Wähler auf der politischen Erfolgswelle schwimmen", sagte deren Parlamentarische Geschäftsführer im Landtag Fabian Mehring, der Aiwanger jüngst als "Kultfigur" bezeichnet hatte.

Lesen Sie auch

Antisemitisches Flugblatt nur eine "Jugensünde"? FDP sieht in Aiwanger einen "Rechtspopulisten"

Andere erinnerten sich an diverse verbale Aktionen Aiwangers, die den Verdacht nahelegten, dass es sich beim bayerischen Vize-Regierungschef im Grunde um einen "Rechtspopulisten" handele.

Dieser Ansicht ist neben anderen der frühere bayerische Wissenschaftsminister Wolfgang Heubisch (FDP). Zuletzt machte Aiwanger in dieser Hinsicht Schlagzeilen, als er bei einer Demonstration in Erding forderte, die "schweigende Mehrheit" müsse sich aus Berlin "die Demokratie zurückholen".

Lesen Sie auch

Aiwanger war in den 80er Jahren Schülersprecher an seinem Gymnasium. Kann man ihm überhaupt vorwerfen, was er im Alter von 17 Jahren getan hat? Politikwissenschaftler Heinrich Oberreiter unterscheidet zwischen "Jugendsünden" und "Jugendtodsünden". Hätte Aiwanger das üble Pamphlet tatsächlich selbst verfasst, "hätte er meine Entschuldigung nicht", so Oberreuter.

Charlotte Knobloch zeigt sich "sprachlos" und "entsetzt" – Aiwanger sagt Wahlkampf-Termine ab

Charlotte Knobloch, Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, zeigte sich "sprachlos" und "entsetzt" über das Flugblatt. Es erinnere sie "im Tonfall an die übelsten Hetzschriften der NS-Zeit".

"Der Staatsminister hat sich zu den Vorwürfen inzwischen erklärt. Aber schon der Verdacht, dass ein Spitzenpolitiker mit diesem Text verbunden sein könnte, ist brandgefährlich." In der Debatte sei viel Vertrauen zerstört worden, das nun mühsam wiederhergestellt werden müsse.

Die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch, fühlt sich an die NS-Zeit erinnert.
Die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch, fühlt sich an die NS-Zeit erinnert. © Angelika Warmuth/dpa

Die Angelegenheit dürfte im bayerischen Landtagswahlkampf noch Kreise ziehen. So hat Aiwanger angekündigt, dass er gegen die "Schmutzkampagne" juristisch vorgehen werde.

Bei einer Veranstaltung im mittelfränkischen Ansbach am Sonntag ging Aiwanger jedoch bei seinem Auftritt nicht auf die Vorwürfe ein. Termine am Rosenheimer Herbstfest sowie am Augsburger Plärrer, die ursprünglich für Samstag geplant waren, hatte Aiwanger kurzfristig abgesagt.

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
87 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
  • Bongo am 29.08.2023 10:07 Uhr / Bewertung:

    Nicht die grüne Community mit Hilfe linkslastiger Medien entscheidet, wer in Bayern regiert, sondern immer noch der Wähler. Warten wir also die Wahlen ab. Am 8. Oktober um 18 Uhr wissen wir dann, wie die Wähler die Angelegenheit Aiwanger sehen. Und Söder wird anschließend eine Regierung bilden und kann sich den oder die Koalitionspartner aussuchen. Also, einfach in Ruhe abwarten!

  • muc_original_nicht_Plagiat! am 28.08.2023 21:19 Uhr / Bewertung:

    Wer an Fakten und einem differenzierten Meinungsbild zum Thema Wolffsohn/Bublik interessiert sein sollte, dem empfehle ich, mal nach nach dem gesamten Spannungsfeld zwischen beiden, nach Vorwürfen aus unterschiedlichen Richtungen, nach Einschätzungen Anderer zu diesem persönlichen Streit zu recherchieren. Denn genau das war es, ein Streit um Meinungs-Hoheiten/ Fachlichkeiten/ Repräsentationsvermögen/ Wahrheiten. Ein Streit, in dem mit harten Bandagen gekämpft wurde. Bublik hatte aber auch sonst Kritiker, nicht nur Wolffsohn. Hier im Forum gibt es leider zu viele, die den Historiker W. diskreditieren, und zwar alleine ob der Tatsache, in welchem Medienorgan er seine Meinung veröffentlichen lässt. Auch denen würde Recherche gut zu Gesicht stehen, wenn es um fairen Austausch geht.

  • Tonio am 28.08.2023 18:41 Uhr / Bewertung:

    Ein schlecht recherchierter Artikel in der SZ mit einer Rufmordkampagne gegenüber dem politisch missliebigen Hubert Aiwanger. Vielen Leuten ist jetzt noch mal deutlich gemacht worden, wie weit die Süddeutsche Zeitung mit ihrem Niveau gesunken ist, wenn sie hier offensichtlichen rotgrünen Kampagnen-Journalismus betreibt. Im Grunde ist das keine Affäre "Aiwanger", sondern eine Affäre "Süddeutsche Zeitung".

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.