Folgen des Klimawandels: So schnell schmilzt der Wald in München
Jeden Montag kann Klaus Kagerer ausrechnen, wie lange die dünnen Fichten, die um ihn herum schnurgerade in den Himmel ragen, noch so dastehen werden. Vielleicht zehn, 15 Jahre, vielleicht ist aber doch schon alles viel früher vorbei. Fest steht für ihn nur: Genauso wie heute kann der Wald auf jeden Fall nicht bleiben.
Klaus Kagerer ist Anfang 40, ein ruhiger Mann, der nur spricht, wenn es auch etwas zu sagen gibt. Seit zwei Jahren arbeitet er als Förster für die Stadt.
Waldbesitz der Stadt befindet sich auch vor den Toren Münchens
München besitzt 5.000 Hektar Wald, nicht an einem Stück, sondern versprenkelt über viele einzelne Flecken, die sich bis zu 50 Kilometer hinter der Stadtgrenze befinden. Klaus Kagerer ist unter anderem für ein Stück des Truderinger Walds zuständig.
Gemeinsam mit seinem Chef Jan Linder, der für alle städtischen Wälder verantwortlich ist, will er an diesem Nachmittag hier im Osten Münchens zeigen, wie ihm der Klimawandel begegnet.

Wie viele Jahre der Förster den Fichten noch gibt, entscheidet sich, wenn er im Truderinger Wald vor einer schwarzen Box mit schmalen Schlitzen steht. Dieser Kasten ist eine Borkenkäferfalle. Montags muss Klaus Kagerer nachschauen, wie viele Insekten die Duftstoffe darin angelockt haben. Mit einem Pinsel kehrt er die schwarzen Käfer zusammen, streicht sie in einen Messbecher.
Klimawandel verändert auch die Arbeit der Förster
Heute ist dieser nicht einmal halbvoll. "Das lässt mich aufatmen", sagt Kagerer. An schlechten Tagen findet er darin das Dreifache. Grundsätzlich ist er aber angespannt. Denn er ist sich sicher: Würde niemand handeln, wäre der Wald rund um München bald verschwunden.
"Der Klimawandel hat die Arbeit der Förster stressiger gemacht", sagt Jan Linder. Der 49-Jährige ist der oberste Förster der Stadt. Seit mindestens zehn Jahren sei er nicht mehr in den Urlaub geflogen, sein schlechtes Gewissen wäre zu groß, sagt er.
Auf jeden starken Sturm folgt ein starker Schädlingsbefall
Denn ebenso lange beobachte er, wie es immer heißer werde, dafür falle immer weniger Regen. Gleichzeitig gebe es immer heftigere Stürme, die die geschwächten Bäume zu Tausenden niederreißen. Hitze sei außerdem eine optimale Bedingung für den Borkenkäfer. Wenn der Baum nicht genug Wasser hat, kann er nicht genug Harz bilden, um sich gegen den Käfer zu wehren, so erklärt es Linder.
Ein paar Meter tiefer im Wald liegt eine etwa 20 Meter lange Fichte auf dem Boden. Klaus Kagerer fährt mit seinen Händen über die Rinde. "Schauen Sie, wie Schnupftabak." Er hat braunes Pulver zwischen den Fingern - ein Zeichen, dass sich unter der Rinde der Borkenkäfer ausgebreitet hat. Mit einem Schaber kratzt Linder die Rinde ab. In dünnen Linien hat sich der Käfer hineingefressen und seine Larven abgelegt. Sechs Wochen haben die Forstarbeiter nun Zeit, den Baum aus dem Wald zu schaffen. Dann schlüpfen die Larven.
Stürme haben für Wälder fatale Folgen
Bei einem einzelnen Baum reicht das. "Aber nach einem Sturm, wenn wir Tausende Bäume aus dem Wald bringen müssen, befinden wir uns in einem Wettlauf, den wir nur verlieren können", sagt Kagerer. Der Erfahrung der beiden Förster nach folgt auf jeden starken Sturm ein Borkenkäferbefall.

Linders Lieblingsbeispiel heißt Nicklas. Der Orkan habe 2015 etwa 60.000 Festmeter Holz in München niedergerissen. Danach musste noch einmal 100.000 Festmeter gefällt werden, weil sie von Borkenkäfern befallen waren. Ein Festmeter entspricht einem Kubikmeter fester Holzmasse.
Wie viele Bäume das sind, wollen die beiden ungern beziffern - schließlich sei jeder Baum anders. Zur groben Vorstellung: "Eine 20 Meter lange Fichte mit einem Durchmesser von 30 Zentimetern ist etwa ein Festmeter", meint Linder. Das heißt: Umgerechnet 160.000 etwa 20 Meter lange Fichten fielen durch oder nach diesem einen Sturm.
"Wald ist eine Kulturlandschaft"
Gleichzeitig werde der zeitliche Abstand von einem Sturm zum nächsten immer kürzer. Genug Zeit zum Nachpflanzen bleibt nicht mehr. "So wie an den Polarkappen das Eis schmilzt, schmilzt hier der Wald", sagt Linder.
Bäume verschwinden in ganz Bayern. Die Naturwald Akademie, die mit Satelliten die Wälder in Deutschland beobachtet, stellte fest, dass Bayern zwischen 2016 und 2020 etwa 21.300 Hektar Nadelwald und rund 5.000 Hektar Mischwald verloren hat. Das ist eine Fläche, auf die der Central Park in New York mehr als 75 Mal drauf passen würde.
"Wald", sagt Linder, "ist eine Kulturlandschaft." Ein Kunstprodukt, das der Mensch gepflanzt hat - und das früher ganz anders aussah als heute. Ursprünglich wuchsen rund um München hauptsächlich Buchen. Weil der Mensch immer mehr Platz für seine Siedlungen und Ackerflächen brauchte und weil er Holz als Rohstoff benötigte, rodete er immer mehr. Ab 1800 erkannten die Menschen, dass kein Baum so schnell nachwächst wie die Fichte. "Doch mit der Hitze und der Trockenheit kommt die Fichte schlechter zurecht als andere Bäume", sagt Linder.
In 100 Jahren: Kroatisches Klima in Bayern?
Seine Mission ist deshalb, neue Bäume zu finden, die mit den gestiegenen Temperaturen besser zurechtkommen. Dafür muss er Jahrzehnte in die Zukunft und in andere Regionen blicken. Das Szenario, mit dem Linder rechnet: In 20 Jahren wird es hier so warm sein wie am Bodensee. In 40 Jahren so wie in Ostfrankreich, in 60 Jahren so wie in Genf, in 80 Jahren wie in Mailand, in 100 Jahren wie in Kroatien.
"Eigentlich müssten wir uns anschauen, was dort für Wald wächst", sagt Linder. "Aber für Olivenbäume und Dattelpalmen ist es noch zu kalt", sagt Kagerer. Deshalb geht sein Blick erst einmal nach Franken, wo die Trockenheit schon heute größer ist.
Kirschen, Elsbeeren, Speierlinge, insgesamt 380 Bäume pflanzte er auf einer Fläche, die der Sturm abgeräumt hatte. Sie stecken in einem Mantel aus hartem Plastik, der sie vor der Kälte schützen soll wie ein Treibhaus. "Ich kämpfe um jeden Baum", sagt Kagerer. Doch die Leute würden nicht begreifen, dass dazu auch gehöre, mit Maschinen in den Wald zu fahren und von Schädlingen befallene Bäume herauszuschaffen. Oder alte Bäume zu fällen, die den jungen das Licht rauben.
Die Förster sehen sich als Kämpfer gegen den Klimawandel
"Ihr habt ja nur die Dollarzeichen im Gesicht", sei ein Spruch, den Kagerer und Linder oft zu hören bekommen. "Natürlich sieht der Wald erst einmal nicht schön aus, wenn wir mit den Maschinen da waren", sagt Kagerer. "Doch die Menschen haben auch keine Geduld mehr zu warten."
Beide sehen sich als "Kämpfer an vorderster Front gegen den Klimawandel", so drücken sie es selbst aus. Verkannte allerdings. Mit den jungen Aktivisten würden sie niemals auf die Straße gehen.
"Wenn wir Baumpflanzaktionen gemacht haben, war von Fridays for Future noch nie einer da", sagt Kagerer. Dabei sind sich die beiden sicher, dass sich der Klimawandel rund um München nirgends so deutlich, so erschreckend und hart zeigt wie hier - im Wald.
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