"Der letzte Besuch": Ein Zeitzeuge aus dem Zwangsarbeiterlager Neuaubing kehrt nach München zurück

Teunis van Houwelingen musste einst in Neuaubing Zwangsarbeit leisten. Nun ist der 96-jährige Niederländer nach München zurückgekehrt.
Eva von Steinburg
|
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
1  Kommentar
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
"Ich war ein rebellischer Charakter": Teunis van Houwelingen spricht beim Besuch in München über seine Zeit als Zwangsarbeiter.
"Ich war ein rebellischer Charakter": Teunis van Houwelingen spricht beim Besuch in München über seine Zeit als Zwangsarbeiter. © NS-Dokuzentrum

Neuaubing - Fast sein ganzes Leben lang hat Teunis van Houwelingen nicht über seine Zeit als Zwangsarbeiter in München gesprochen – bis vor zehn Jahren. Anlass war ein Kriegsgedicht, das seine Enkelin Chiara für ihre Schule in den Niederlanden geschrieben hatte. Seitdem treibt den heute 96-Jährigen die Erinnerung an seine Zeit in Neuaubing um. Vom Januar 1945 bis zum Kriegsende schuftete der junge Mann aus der Nähe von Rotterdam hart für die Reichsbahn.

Sein Ausweis als 14-Jähriger.
Sein Ausweis als 14-Jähriger. © NS-Dokuzentrum

Anders als viele Deportierte hatte sich der 18-Jährige im besetzten Holland freiwillig für den Arbeitseinsatz im Deutschen Reich gemeldet – um seine im Winter hungernde Familie zu entlasten. Jahrzehnte später ist er an diesen Ort zurückgekehrt. Mit seinem Rollator steht der Mann an einem Oktobertag auf dem Gelände, auf dem er einst schuftete und erinnert sich: "Wir kamen in überfüllten Viehwaggons, in denen wir stehen mussten, ohne Toilette."

"Musste aufpassen, die Hände nicht am Öl zu verbrennen": Schwere Arbeit im Zwangsarbeiterlager

Im Zweiten Weltkrieg war der junge Niederländer auf dem riesigen Gelände des Ausbesserungswerks der Reichsbahn in Neuaubing einquartiert – im Bereich des Weichenlagers, wo heute von der Ria-Burkei-Straße noch der Schotter vom Gleisbett ehemaliger Zugtrassen zu sehen ist.

An der Ria-Burkei-Straße stehen heute noch viele historische Bahngebäude. Das mit dem Uhr-Türmchen erkennt der Zeitzeuge wieder.
An der Ria-Burkei-Straße stehen heute noch viele historische Bahngebäude. Das mit dem Uhr-Türmchen erkennt der Zeitzeuge wieder. © NS-Dokuzentrum

Sein Arbeitsplatz war in der Nähe des Hauptbahnhofs, wo er eine schwere Arbeit verrichtete: Bei Zügen erneuerte er die Bremsbeläge. "Ich musste dafür den ganzen Tag auf Knien arbeiten und aufpassen, meine Hände nicht am heißen Öl zu verbrennen", erinnert sich der Zeitzeuge: "Ich schuftete sieben Tage in der Woche, der Zug fährt ja auch an sieben Tagen in der Woche", fügt er schelmisch hinzu.

Zwangsarbeit in Neuaubing: Einmal schlug Teunis van Houwelingen zurück

Er blickt ohne Groll zurück auf die Zeit in München. Denn der junge Holländer erhielt eine bessere Behandlung als viele Zwangsarbeiter anderer Nationen: Mit Marken konnte er sich Brot und ein warmes Essen besorgen. Weil er relativ gut versorgt war, gab van Houwelingen anderen Brot und Zigaretten ab. Dabei hatte er schreckliche Erlebnisse: "Die anderen Zwangsarbeiter haben sich so schrecklich darum gestritten, dass ich Angst hatte, dass sie sich gegenseitig erschlagen. Dann habe ich aufgehört, Sachen zu geben", weiß er noch.

Lesen Sie auch

Lesen Sie auch

Wenn man bei der Arbeit etwas falsch machte, gab es körperliche Strafen – einmal hat er zurückgeschlagen: "Ich war ein rebellischer Charakter. Ich war ungeeignet Angst zu haben", erklärt er etwas stolz. An die Orte seiner Zwangsarbeit erinnert er sich jedoch kaum – sicher erkennt er aber den Sportplatz des Eisenbahnersportvereins und ein markantes Backsteingebäude mit einer Uhr im Turm: das Verwaltungsgebäude des früheren Fabrikgeländes der Reichsbahn in Neuaubing – in der Nähe des heutigen Tesla-Centers auf dem früheren Bahngelände.

Seit dem Ende der NS-Zeit war Teunis van Houwelingen nicht mehr in München

Nach seiner Rückkehr in die Nähe von Rotterdam hat Teunis van Houwelingen 1952 geheiratet, in der Montage von Flugzeugen gearbeitet, und fünf Kinder großgezogen. Fotos von damals zeigen ihn mit kräftigen Händen und blitzenden Augen. Seine raue Stimme hat er noch heute. Sohn Arie und Schwiegertochter Gerda van't Veer haben ihn mit dem Auto aus ihrem Heimatort Sliedrecht nach München gefahren. Teunis van Houwelingen war seit Kriegsende nicht wieder in Deutschland.

"Ich war ein rebellischer Charakter": Teunis van Houwelingen spricht beim Besuch in München über seine Zeit als Zwangsarbeiter.
"Ich war ein rebellischer Charakter": Teunis van Houwelingen spricht beim Besuch in München über seine Zeit als Zwangsarbeiter. © NS-Dokuzentrum

Dass er nach 78 Jahren die Reise in seine Vergangenheit wagte, kam so: Letztes Jahr gab ihm ein Freund einen Prospekt mit Fotos der Baracken des Zwangsarbeiterlagers an der Ehrenbürgstraße in Neuaubing. Das NS-Dokumentationszentrum will dort 2025 einen Erinnerungsort eröffnen. "Neuaubing? Das kenne ich", der ehemalige Zwangsarbeiter wurde neugierig: "Das will ich sehen! Aber bis zur Eröffnung ist es noch eine lange Weile."

"Wahrscheinlich der letzte Besuch eines Zeitzeugen in München"

Teunis van Houwelingen ist fit für seine 96 Jahre. Doch er hatte Sorge zur Eröffnung nicht mehr zu leben. So rief seine Schwiegertochter das NS-Dokumentationszentrum an – das den Zeitzeugen sofort zum Besuch einlud.

Angela Hermann, Historikerin am NS-Dokuzentrum.
Angela Hermann, Historikerin am NS-Dokuzentrum. © Eva von Steinburg

"Ihm war es wichtig nach München zu kommen, wir haben uns sehr gefreut", sagt Angela Hermann, Historikerin am NS-Dokumentationszentrum: "Es gab auch einen Empfang im Rathaus. Wahrscheinlich war dies der letzte Besuch von einem Zeitzeugen in München."

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
1 Kommentar
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
  • SagI am 29.10.2023 22:28 Uhr / Bewertung:

    Traurig, aber freiwillig für den Arbeitseinsatz im Deutschen Reich gemeldet und damit keine Zwangsarbeit. Übrigens kämpften auch 22.000 Niederländer freiwillig in der Waffen-SS. (wikipedia)

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.