Abbruch der Matthäuskirche 1938: "Als hätten die Nazis die Frauenkirche abgerissen"
München - Heute vor 85 Jahren, am 9. Juni 1938 wird klar: Die Matthäuskirche in München soll abgerissen werden. Nur wenige Tage später ist es dann so weit. Die regierenden Nationalsozialisten hatten sie als Verkehrshindernis ausgemacht.
Der Historiker Mathias Irlinger erklärt im AZ-Interview, warum den Nazis der Abriss nicht schnell genug gehen konnte und welche Rolle Adolf Hitler in dieser Sache spielte.
AZ: Herr Irlinger, wie überraschend kam der Abriss der Matthäuskirche?
MATHIAS IRLINGER: Der Zeitpunkt war absolut überraschend.
Dass sie abgerissen wurde, aber nicht?
Schon eineinhalb Jahre zuvor war in einer Denkschrift zur städtebaulichen Zukunft der "Hauptstadt der Bewegung" aufgetaucht, dass die Matthäuskirche ein Verkehrshindernis sei. Dann passierte aber eigentlich wenig. Am 9. Juni 1938 erfährt die Kirche vom Abriss, am 13. Juni gibt es noch einen Abschiedsgottesdienst und schon am Tag darauf beginnen die Arbeiten.
Abriss der Matthäuskirche als städtebauliche Maßnahme
Was passiert dann auf dem Areal?
Erstmal nicht viel. Es wird provisorisch für Parkplätze genutzt.
Woher dann der Zeitdruck?
Da kann man nur mutmaßen. Offensichtlich wusste man ja gar nicht, was man kurzfristig mit diesem Platz tun sollte. Bis zum Bau der geplanten Prachtstraßen wären noch Jahre vergangen. Die Nazis wollten Nägel mit Köpfen machen. Ich glaube schon, dass eine strategische Überlegung dahinterstand: Es ging so schnell, dass gar kein richtiger Widerstand entstehen konnte.
Ist es nicht ohnehin überraschend, dass die Nazis die zentrale evangelische Kirche ohne Not wegreißen?
Im Sommer 1938 ist das Naziregime sehr gefestigt, der Anschluss Österreichs ist gerade vollzogen, man befindet sich auf dem Zenit seiner Macht - und mutmaßlich auch auf dem Zenit, was die Zustimmung in der Bevölkerung betrifft. Das nutzt man auch aus, um solche Schläge wie den Abriss der Matthäuskirche durchzuführen.
Hitler persönlich hatte beim Abriss der Matthäuskirche seine Finger im Spiel
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass sich Adolf Hitler persönlich mehrmals für den Abriss der Kirche ausspricht. Steht dahinter eine Aggression gegen die Evangelische Kirche? Und ist es nicht überraschend, dass er sich überhaupt zu so einer vergleichsweise kleinen Frage äußert?
Auf den ersten Blick ist es absolut überraschend, dass sich ein Reichskanzler auf städtebauliche Details einlässt. Im Fall Hitlers und Münchens ist es allerdings weniger überraschend. Er mischt sich permanent in irgendwelche Details ein, bestimmt zum Beispiel, welche Farbe die Busse haben sollen, die durch den Englischen Garten fahren. Entwürfe zum neuen Nordbad lässt er sich am Obersalzberg zeigen. Hitler ist städtebaulich interessiert.
Um die Evangelische Kirche geht es ihm also eher nicht?
Ich glaube, sie ist ihm einfach wurscht. Er will seine Prachtstraße haben. Aus heutiger Sicht besonders absurd: Die Sonnenstraße war ja davor eine grüne Allee mit der Matthäuskirche im Zentrum. Die wurde für den autogerechten Ausbau geopfert, in einer Zeit, in der in München eh wenige Autos unterwegs waren. Nach den ursprünglichen Plänen sollte für dieses Ziel auch noch die Trambahn aus der Sonnenstraße verschwinden.

Historiker Irlinger: "Als hätten sie die Frauenkirche abgerissen"
Wäre der kurzfristige Abriss auch denkbar gewesen, wenn es sich um eine katholische Kirche gehandelt hätte?
Die Matthäuskirche war ja die zentralste, die älteste, die deutlich sichtbarste evangelische Kirche der Stadt. Bei den Katholiken hätte man da also von der Frauenkirche gesprochen. Da wäre der Protest mit Sicherheit viel größer gewesen.
Gab es das denn überhaupt, Protest?
Die Reaktionen aus der Evangelischen Kirche sind meist stiller Frust. Ein echter Protest entsteht nicht. Landesbischof Meiser sagt in seiner Rede im Abschiedsgottesdienst der Kirche, dass man sich dem Zwang der Verhältnisse beugen musste.
Ende der Matthäuskirche: Bei Weitem nicht so rigoros wie der Abriss der Synagoge
Also überhaupt kein scharfer Protest?
Es gibt vereinzelte öffentliche Reaktionen, offenbar sehen es einige Menschen als Affront gegen die Evangelische Kirche an. Es gibt zum Beispiel ein anonymes Drohschreiben an eine Baufirma, dass sie sich nicht am Abriss beteiligen soll. Die Firma war aber ohnehin nicht beteiligt – jedoch am fast zeitgleichen Abriss der Synagoge. Man muss aber schon auch sagen, dass die Nazis mit der Evangelischen Kirche vorsichtiger umgehen als mit der Israelitischen Kultusgemeinde. Den Mitgliedern der Matthäusgemeinde wird bereits vor dem Abriss ein Neubau auf Staatskosten versprochen.
Zu dem es aber nie kommt.
Genau. Kaum ist die Kirche abgerissen, ist da keine Rede mehr von. Mit dem beginnenden Krieg wird das eh aufgeschoben. Erst nach 1945 erkämpft sich die Evangelische Kirche ihren Neubau am Sendlinger-Tor-Platz.
Der Historiker Mathias Irlinger hat über die Münchner Stadtverwaltung im Nationalsozialismus promoviert und arbeitet in der Dokumentation Obersalzberg. Sein Buch "Die Versorgung der ,Hauptstadt der Bewegung': Infrastrukturen und Stadtgesellschaft im nationalsozialistischen München" von Mathias Irlinger ist im Wallstein-Verlag erschienen, 432 Seiten, 42 Euro
- Themen:
- Evangelische Kirche
- Frauenkirche
- München