Abriss der Matthäuskirche vor 85 Jahren: Erinnerungen einer Münchnerin
München - Meine Großmutter hat Kirchen geliebt. Noch als Hochbetagte konnte sie sich nicht sattsehen. Egal, wie oft sie eine Kirche schon besichtigt hatte, Elisabeth Mutz musste, wann immer sie einen Ort besuchte, doch auch noch kurz ins örtliche Gotteshaus. Aber ihre Kirche, die Kirche ihrer Jugend, konnte sie nicht mehr besuchen. Weil die Nazis die Matthäuskirche 1938 abgerissen haben.
Zeit ihres Lebens hat sie Tagebuch geführt. Und so konnte Oma, wenn ich sie nach jenen Tagen und Wochen fragte, nicht nur in ihrem Gedächtnis kramen, sondern auch ein altes Tagebuch aus dem Schrank holen - und vorlesen.
9. Juni 1938: Als die Nazis den Abriss der Matthäuskirche beschlossen
Ihr Vater, Georg Plesch, war einer der drei Pfarrer der Matthäuskirche, für die Krankenhausseelsorge zuständig. Er war an den letzten Gesprächen mit den Nazis beteiligt, bevor die Verfügung erlassen wurde, die Kirche abzureißen. Elisabeth war 14, vor wenigen Wochen in der Matthäuskirche konfirmiert worden. Über den 9. Juni 1938 hat meine Oma erzählt, ihr Vater sei "heimgekommen und hat gesagt, dass die Kirche weg soll. Wir waren sprachlos. Wie kam man denn dazu, uns die Kirche wegzunehmen?" Die Nachricht habe für alle einen großen Schock dargestellt. Als 14-Jährige sei sie voller Opposition gewesen.
Die Münchner Protestanten insgesamt aber sind es nicht – zumindest nicht in einer offenen Opposition. Meine Großmutter konnte auch sehr eindrücklich mit und ohne ihr Tagebuch vom letzten Gottesdienst am Montagabend, 13. Juni 1938, erzählen, als sich 1.600 Gläubige in der Kirche drängten. Es sei sehr bewegend gewesen.
Tränen und Entwurzelung: Wenn der Gemeinde das Gotteshaus genommen wird
"Wir hatten alle noch einmal unser Konfirmandenkleid an. Pfarrer Loy standen bei seinem letzten Abendmahl die Tränen in den Augen. Viele haben geweint, ich auch, als die Altarbibel herausgetragen wurde, die Orgel zum letzten Mal spielte und die Kerzen ausgeblasen wurden." In ihrem Tagebuch steht: "Vor der Kirche wurde weiter gesungen. Die Abrissfirma stand schon bereit. Am nächsten Tag war schon ein Gerüst aufgestellt und die Kirche innen leer." Oma hat erzählt, dass die abgerissene Kirche in den Jahren darauf jeden Sonntag ein Thema gewesen sei - obwohl oder gerade weil von ihr schon nach wenigen Wochen nichts mehr zu erkennen gewesen war.
Ihr Vater Georg Plesch hatte damit zu tun, die heimatlos gewordene Gemeinde zusammenzuhalten. Man traf sich im "Weißen Saal" des Polizeipräsidiums, später in einer Wirtschaft in der Ruppertstraße.
"Es war sehr wichtig", sagte Elisabeth Mutz, "dadurch gab es noch einen Zusammenhalt. Man hat die Gemeinschaft gebraucht, es sind dann ja auch viele Angehörige gefallen." Ihr Bruder wurde in dem Wirtshaus konfirmiert, sie selbst in der "Notkirche", wie sie das aus Holz nach dem Krieg an der Ziemensstraße errichtete Gotteshaus nannte, getraut.
Erst 1955 gibt es den Kirchen-Neubau am Sendlinger Tor
1955 schließlich konnte die Gemeinde endlich die neue Matthäuskirche am Nußbaumpark eröffnen. Elisabeth Mutz wohnte in jenen Jahren nicht in München, reiste aus Franken an. Anders als viele andere evangelische Zeitzeugen hat sie den Neubau gemocht. "Es war einfach wichtig, dass die Gemeinde endlich wieder eine Kirche hat."
Die letzten runden Jahrestage hat Elisabeth Mutz noch hochbetagt erlebt und zum Anlass genommen, zu erzählen. Inzwischen lebt sie nicht mehr. Aber dass wir uns weiter daran erinnern, was die Nazis mit der Matthäuskirche gemacht haben, das hätte meine Oma sehr gut und wichtig gefunden.
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