Dissonanz oder Schlussakkord? Valery Gergiev in München vor dem Aus
Noch am Donnerstag wollten sich weder das Kulturreferat noch das Rathaus zu einer Roten Linie für den Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker äußern. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits das Ultimatum des Mailänder Bürgermeisters und des Scala-Intendanten an Valery Gergiev, sich entweder vom russischen Angriff auf die Ukraine zu distanzieren oder nach der Premiere von "Pique Dame" keine weitere Vorstellung am berühmtesten Opernhaus der Welt zu dirigieren.
Gergiev befand sich inzwischen auf dem Weg nach New York, wo er ab Freitag ein dreitägiges Gastspiel der Wiener Philharmoniker dirigieren sollte. In der Nacht wurde er durch Yannick Nézet-Séguin ersetzt. Ohne Angabe von Gründen zwar, aber die Angst vor massiven Protesten ist offenkundig, denn seit der Besetzung der Krim demonstrierten regelmäßig Ukrainer direkt vor den Türen der Carnegie Hall. Auch einflussreiche Sponsoren des Konzertsaals sollen ihren Einfluss geltend gemacht haben.
Münchner Ultimatum: Distanziert sich Gergiev nicht von Putins Invasion, fliegt er
Am Donnerstagabend zögerten Stadträte der SPD noch, sich zu Gergiev zu äußern. Florian Roth von den Grünen/Rosa Liste konnte sich am Freitag früh nicht vorstellen, dass Gergiev "ohne eine Verurteilung des Angriffskriegs seines Freundes Putin – dessen Syrien- und Ukrainepolitik er immer unterstützt hat – hier in München wie geplant ein Konzert dirigiert".
Gegen Mittag folgte dann das unmissverständliche Ultimatum aus dem Rathaus: Gergiev möge sich bis zum 28. Februar vom russischen Angriffskrieg distanzieren, so Oberbürgermeister Dieter Reiter in einem Brief an den Dirigenten. Anderenfalls müsse die Stadt das Vertragsverhältnis als Chefdirigent beenden.

"Gemeinsam mit den Orchestervertretern der Münchner Philharmoniker erwarte ich von Ihnen als Chefdirigent des Orchesters jetzt ein deutliches Zeichen der Distanzierung von den völkerrechtswidrigen Angriffen gegen die Ukraine und damit ein klares Signal an die Stadtspitze, die Öffentlichkeit, die Musikerinnen und Musiker der Münchner Philharmoniker und ihr Publikum", heißt es in dem Brief Reiters an Valery Gergiev.
Reiter drückt Partnerstadt Kiew sein Mitgefühl aus
"Ich bin fassungslos über diesen barbarischen Akt des russischen Machthabers Putin, der seine nationalistischen Ziele mit aller Brutalität und ohne Rücksicht auf Menschenleben verfolgt", so der Oberbürgermeister weiter. Diese "schreckliche, völkerrechtswidrige Aggression" müsse schnellstmöglich gestoppt werden. "Unsere Sorge gilt dabei ganz besonders unserer Partnerstadt Kiew, die, wie viele andere Orte in der Ukraine, bereits gezielt beschossen wurde."
Reiter handelt dabei nicht nur mit Rückendeckung der Münchner Philharmoniker, deren Musiker zuletzt vielfach ihre Profilbilder auf Social Media mit ukrainischen Flaggen versehen haben. Auch die Zweite Bürgermeisterin unterstützt Reiters Haltung. "Maestro Gergiev ist als Dirigent der Philharmoniker ein internationaler Botschafter unserer Stadt. München steht für Frieden und Freiheit, und diese Werte werden gerade von Russland mit Füßen getreten", so Katrin Habenschaden. Die CSU-Kultursprecherin Beatrix Burkhardt findet, man könne sich jetzt nicht wegducken und unterstützt Reiters Vorstoß, auch aus dem Landtag gibt es Zustimmung, etwa von Sanne Kurz (Grüne) und dem ehemaligen Kunstminister Wolfgang Heubisch (FDP).

Valery Gergiev: Befürworter der Krim-Annexion
Eine Distanzierung Gergievs von Putins Politik innerhalb der gesetzten Frist wäre eine echte Überraschung. Zu erwarten ist höchstens eine Erklärung mit lauwarmen Worten zu den verbindenden Werten der Musik, die Reiter ein wenig ins Unrecht setzt. Aber selbst das scheint eher unwahrscheinlich.
Der 68-jährige Gergiev ist als Leiter von landesweit mehreren Opernhäusern, Konzertsälen und Festivals eine zentrale Figur der russischen Kulturpolitik. In dieser Rolle dirigierte er 2008 nach dem russischen Angriff auf Georgien im besetzten Gebiet. 2014 unterzeichnete er einen offenen Brief Kulturschaffender, der die Annexion der Krim befürwortete.
Gergiev ist eine exponierte Person. Nicht jeder in Russland tätige Künstler ist staatsnah, und es wäre falsch, hier in ein schwarzweißes Freund-Feind-Denken zu verfallen. Auf dieses Problem wies am Freitag Joachim Lux, der Intendant des Hamburger Thalia-Theaters hin. Er plädierte dafür, die kulturellen Verbindungen zu Russland weiter zu pflegen. Etwa mit Elena Kovalskaya, die Leiterin des staatlichen Meyerhold-Theaterzentrums in Moskau, die gestern Konsequenzen zog und zurücktrat. Sie könne nicht für einen Mörder arbeiten und von ihm bezahlt werden, erklärte sie.
Staatsoper-Musikchef Jurowski hat nichts übrig für Putin
Der in der russischen Hauptstadt geborene Vladimir Jurowski, seit Beginn der Spielzeit Musikchef der Bayerischen Staatsoper, lebt seit vielen Jahren in Deutschland, wo er auch studierte. Er sagte im Vorfeld der Premiere von Schostakowitschs "Die Nase" im Nationaltheater dem Bayerischen Rundfunk, ihn würde mit dem Regime "gar nichts" verbinden. Er dirigiere zwar in Russland, habe sich aber von staatlichen Veranstaltungen ferngehalten.
Jurowski hat aus "Wut und Trauer" über die russische Aggression das Programm eines Konzerts des Radiosinfonieorchesters Berlin geändert: Statt Tschaikowskys "Slawischem Marsch" dirigiert er die ukrainische Hymne und ein Orchesterwerk ihres Komponisten Mychajlo Werbyzkyj.
Ein Nachfolger für Gergiev dürfte schnell gefunden sein
Ein schnelles Ende der Ära Gergiev lässt seinen größten Erfolg als Chefdirigent unbeschädigt: den Bau der Isarphilharmonie als vollwertigen Konzertsaal ohne Kompromisse.
Und weil neben Valery Gergiev zahlreiche jüngere Dirigentinnen und Dirigenten sehr erfolgreich gastiert haben und das beträchtlich verjüngte Orchester seine stilistische Bandbreite erweitert hat, wird es kein Problem sein, einen Nachfolger für Gergiev zu finden.
Gut dotiert ist das Amt auch. Wieviel man verdient, ist zwar geheim, aber Gergiev ist der höchstbezahlte Angestellte der Stadt München. Zumindest bis Montag.