Daniele Rustioni dirigiert in München: Ein einziger tanzender Über-Körper
Sechshundertsechsundfünfzig Muskeln hat der menschliche Körper. So viele Musiker spielen zwar in einem Orchester normalerweise nicht. Doch unter der Leitung des italienischen Dirigenten Daniele Rustioni tritt das Bayerische Staatsorchester im Nationaltheater so federnd kraftvoll, wohldefiniert und nicht zuletzt einheitlich auf wie der Körper einer Tänzerin oder eines Tänzers, an dem man das faszinierend vielgestaltige Muskelspiel gleichsam hörend beobachten kann.
Daniele Rustioni: Spektakulärer Einspringer mit direktem Zugriff aufs Orchester
Ungewöhnlich viele Einspringer gab es in letzter Zeit bei den Orchestern zu verzeichnen. In diesem Fall übernahm Daniele Rustioni den Stab vom verstorbenen Michail Jurowski, dem Vater des Generalmusikdirektors Vladimir Jurowski.
Unter den mehr oder weniger kurzfristig anberaumten Dirigaten der letzten Monate ist dieses das spektakulärste. Mit Abstand. Denn der noch nicht 40-jährige Rustioni, Chefdirigent an der Oper in Lyon und frischgebackener Erster Gastdirigent an der Staatsoper, hat einen so direkten Zugriff auf das Orchester wie sonst kaum jemand seiner Generation.
Organisch baut sich ein atemberaubend präsenter, stehender Streicherklang auf
Das liegt vor allem daran, dass er ausschließlich an die Bedürfnisse der Musikerinnen und Musiker denkt. So beherrscht er etwa die Kunst, einen Einsatz nicht nur eindeutig zu geben, sondern so suggestiv, dass die leisen Holzbläser zu Beginn der Fantasie-Ouvertüre "Romeo und Julia" von Peter Tschaikowsky wie aus einem einzigen Mund ertönen.
Obwohl die ersten Minuten dieses Stücks stark zerklüftet sind, baut sich organisch ein atemberaubend präsenter, stehender Streicherklang auf, der in der Staatsoper praktisch mit Händen zu greifen ist. Selbst in den unübersichtlichen Klangflächen der Tondichtung "Fontane di Roma" von Ottorino Respighi erstreckt sich der Einfluss Daniele Rustionis noch auf die kleinsten Verästelungen.
Unermüdlich feuert Rustioni das Bayerische Staatsorchester an
Eine solche hautenge Nähe zum Orchester lässt sich nur mit glückender Motivation herstellen. Unermüdlich feuert Rustioni das Bayerische Staatsorchester an und freut sich dann auch sichtlich über besonders gelungene Stellen. Sowohl die kammermusikalisch dünnen Momente als auch die ohrenbetäubenden in den Ballettsuiten zur zweiten "Romeo und Julia"-Adaption des Programms, der von Sergej Prokofjew, sind phänomenal durchgestaltet.
Vielleicht, weil Daniele Rustioni auch noch über das verfügt, was man einen "schönen Schlag" nennt, schafft er das Kunststück, noch den massivsten, blechgepanzerten Passagen einen Hauch von tänzerischer Eleganz mitzugeben. Ein Orchester, das die ganze Bühne ausfüllt, verschmilzt zu einem einzigen tanzenden Über-Körper: Besser geht's nicht.
Daniele Rustioni dirigiert ab 9. Mai die Neuinszenierung der "Trojaner" sowie Vorstellungen von "Otello" und "Un ballo in maschera" im Nationaltheater
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