Arcade Fire in der Münchner Olympiahalle: Düsternis und frohe Farben
München - Anlässlich der Zugabe marschiert Win Butler durch den Gang, der zu der kleinen Bühne mitten in der Arena führt, sein Weg führt am dicht gedrängten Publikum vorbei. Das jubelt frenetisch, mit manchen Zuschauern klatscht der Sänger unterwegs ab, die Stimmung in der Olympiahalle: bombig.
Noch vor einigen Wochen wäre das nicht weiter erwähnenswert gewesen, sondern nur der ritualisierte Ablauf der Show einer Live-Band, die Arenen routiniert in Partystimmung zu versetzen weiß. Doch inzwischen ist alles anders, angesichts der Vorgeschichte dieser Tournee von Arcade Fire.
Vorwürfe gegen Win Butler: Es stehen Aussage gegen Aussage
Denn vor einigen Wochen, kurz vor Beginn der Konzertreise, erschien auf dem Musikportal "Pitchfork" ein Artikel, in dem drei Frauen und eine non-binäre Person dem Bandleader und Sänger Win Butler unangemessenes Verhalten vorwarfen. Er soll die Frauen gedrängt haben, ihm sexuell explizite Nachrichten und Fotos zu schicken, er selbst soll wiederum ungewollt Nacktbilder von sich gesendet haben. Die non-binäre Person wirft ihm vor, sie gegen ihren Willen geküsst und nahe dem Intimbereich berührt zu haben.
Win Butler räumte zwar die Beziehungen zu allen vier ein, betonte aber, dass niemals etwas gegen deren Willen geschehen sei. So stehen Aussage gegen Aussage, doch der "Pitchfork"-Artikel zielte auf eine allgemeinere Ebene, Stichwort #Metoo: Butler habe seine Machtstellung als gefeierter Rockstar ausgenutzt, um die vier zu ungewollten Handlungen zu drängen.
Butler entschuldigte sich für sein Fehlverhalten
In dieser Lesart werden Menschen nicht nur in einem Machtverhältnis verortet, wenn zwischen ihnen eine ökonomische Abhängigkeit besteht wie zwischen Chef und Angestellter, Professor und Student, Filmproduzent und Schauspielerin. Sondern auch wenn ein informelles Machtgefälle mit Blick auf Status, Ansehen und Einfluss besteht. Zudem kritisierte der Artikel die Altersdifferenz: Win Butler sei Mitte, Ende 30 gewesen, die vier Anklagenden erst zwischen 18 und 23.
Butler entschuldigte sich für sein Fehlverhalten, ohne allerdings zu präzisieren, was das genau umfasst habe. Und seine Ehefrau Régine Chassagne - die zweite Hauptfigur von Arcade Fire - schrieb, dass ihr Mann vom Weg abgekommen sei, aber niemals Frauen gegen ihren Willen berühren würde.
Begeisterung in der Olympiahalle weist nicht auf ein baldiges Karriere-Ende hin
Trotzdem schlug der Artikel gewaltige Wellen: Ein kanadischer Radiosender nahm Arcade Fire aus dem Programm. Der prominente Support Act Feist, der wie Arcade Fire aus der kanadischen Indieszene stammt, sagte die Tour und somit auch das München-Konzert ab. Und in deutschen Feuilletonartikeln wurde Win Butler zum Prototyp des schmierig-übergriffigen Rockstars von gestern erklärt oder gleich unterschwellig die Erfolgsstory der Band für quasi beendet.
Letzteres ist eindeutig falsch: Die Begeisterung des Publikums in der Olympiahalle weist keinesfalls auf ein baldiges Karriere-Ende hin. Natürlich weiß man nicht, ob die Gäste überhaupt von den Vorwürfen gehört haben und inwieweit sie Empörung und #Metoo-Deutung teilen: Die Stimmung ist jedenfalls kein bisschen gedämpft bei dieser Party.
Ohrenbetäubender Industrial-Noise in den Pausen zwischen den Stücken
Und die kommt schnell in Gang - dabei geht es äußerst dunkel los. Zum Sound von Kraftwerk kommt die Acht-Personen-Band auf eine Bühne, die in Düsterlicht gehüllt ist, auf dem bogenförmigen Riesendisplay über der Band ist eine schwarzweiße Iris zu sehen. Düster geht es auch los mit "Age Of Anxiety I". Dann geht ein Song in den nächsten über, allesamt bleiern-schwer wie "Reflektor" mit tiefen E-Gitarren-Noten und Synthiesound, und sämtliche Pausen zwischen den Stücken werden mit ohrenbetäubendem Industrial-Noise überbrückt. Will Win Butler lieber nicht sprechen?
Dann nimmt er auch noch seinen Kopf in Verzweiflungspose in die Hand und beginnt "Afterlife" zu singen. Hielte man den Blick starr auf die Bühne gerichtet, könnte man sich im Geiste einen Zusammenhang zur Vorgeschichte zurechtzimmern.

Zuschauer machen mit: Sie gehen in die Hocke hüpfen dann euphorisch nach oben
Nur: Die Fans in der Arena hüpfen vor Begeisterung, wenn die Beats die Songs von Anfang bis Ende voran peitschen und die Band darüber neue Themen und Zweitmelodien schichtet, sodass sogar eine schwache, einförmige Nummer wie "Age of Anxiety II (Rabbit Hole)" am Ende interessant wird.
Von Anfang an funktioniert dagegen das rockige "The Illusion I & II" vom neuen Album "WE", und dieses "Wir" ist nicht nur eine Hoffnung der Band - die Zuschauer machen bestens mit, etwa als Win Butler und Régine Chassagne sie bitten, in die Hocke zu gehen und dann euphorisch nach oben zu hüpfen.
Auch Win Butler wird immer euphorischer
Mit "Rebellion (Lies)", dem am meisten gefeierten Song des Abends, kippt auch die Stimmung der Show ins Positive, ja Grellbunte. Von Beginn an haben die acht Musiker munter ihre Instrumente getauscht, jetzt nehmen beschwingte Akustik-Gitarren und Geigen mehr Raum ein, und auf der Bogen-Leinwand leuchten jetzt die frohen Farben des Regenbogens.
Die tollste Nummer des Abends, "Unconditional I (Lookout Kid)", macht richtig Laune, und danach schießen auch noch riesige Luftballons mit Smiley-Gesichtern nach oben. Auch Win Butler wird immer euphorischer, bedankt sich mehrmals beim Publikum. Das bejubelt auch die Solonummern seiner Frau Régine kurz vor Ende, "Haiti" und den Disco-Reißer "Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)", bei dem sie schon mal allein die kleine Nebenbühne betritt, um auf dem Klavier zu tanzen.
Prognose: Arcade Fire kommen wieder
Nach dem abschließenden "Everything Now", das von Disco-Beat bis Klaviermotiv komplett nach Abba klingt, zieht dann die ganze Rasselbande durch den Gang, und nach der letzten Zugabe "Wake Up" auch wieder zurück.
Da muss Win Butler nur die ersten beiden Noten des einfachen Oh-oh-oh-Refrains anstimmen und das Publikum singt ihn weiter, bis die Band aus der Arena entschwunden ist. Prognose: Sie wird wiederkommen.