Otl Aicher wäre 100 geworden: Anarchist mit Sinn für Ordnung

Seine Piktogramme helfen weltweit bei der Orientierung: Vor 100 Jahren wurde Otl Aicher geboren.
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Der Grafikdesigner Otl Aicher vor einigen seiner zu den Olympischen Spielen entworfenen Piktogrammen.
Der Grafikdesigner Otl Aicher vor einigen seiner zu den Olympischen Spielen entworfenen Piktogrammen. © Sven Simon/Imago

Seine sportelnden Figürchen kapiert jeder. Ein Kreis, ein paar Striche, und schon ist klar, dass da eine rennt oder einer turnt. Und kommt noch ein Ball dazu, wird Fuß- bzw. Handball gespielt, Wellen deuten aufs Schwimmen, ein Schläger auf Hockey. Das ist verblüffend einfach, aber auch minuziös durchdacht.

Aicher ist einer der Wegbereiter des Corporate Designs

Otl Aicher war ein Tüftler mit Sinn für das ideale Maß. Dieser geniale Gestalter, der am 13. Mai vor 100 Jahren in Ulm geboren wurde, hat nicht einfach drauf losgezeichnet. Jedes Detail musste sich in ein großes Ganzes fügen und in einem konkreten Verhältnis dazu stehen. Ob er sich nun das Erscheinungsbild der Olympischen Spiele 1972 in München oder das "Corporate Design" der Lufthansa ausdachte, ob Firmenlogos, Plakate oder Türklinken.

Dahinter steckte auch die Theorie einer Ordnung des Kosmos - der kritische Katholik Aicher mit lebenslang enormem Lektürepensum hat sich schon als Schüler mit der Philosophie und besonders mit Thomas von Aquin beschäftigt.

Er konnte aber auch nicht anders, und sein Ordnungsfimmel führte so weit, dass der fünffache Familienvater nachts die Schuhe seiner Kinder in Reih und Glied gestellt hat. Man musste diesen pedantischen Hinterherräumer also schon auch aushalten.

Aicher konnte einen Sachverhalt visuell vermitteln

Auf der anderen Seite hat dieser Denker und Macher Unglaubliches angestoßen, konzipiert, begleitet und dabei immer wieder angepackt. Da war sein Zuhause in einem Handwerksbetrieb sicherlich prägend. Und alles, was er anging und auch dachte, durchlief seinen Stift. Aicher konnte einen Sachverhalt mit wenigen Strichen auf den Punkt bringen und damit visuell vermitteln - mit traumwandlerischer Sicherheit, jede Linie, jedes Profil saß. Und nichts Überflüssiges sollte das Auge ablenken. Klarheit und Sachlichkeit waren das Ziel, und die Qualität des Produkts musste überzeugen, nicht die wolkigen Anpreisungen oder gar die Suggestion. Fremdbestimmung war diesem Anarchisten zuwider, entscheiden sollte man sich gefälligst selbst.

Das hatte nicht zuletzt mit der aggressiven Propaganda und dem hohlen Pathos der Nationalsozialisten zu tun. Schon in die Hitlerjugend wollte er nicht eintreten, das hat ihm 1937 mit gerade 15 Jahren eine Haftstrafe eingebracht. Und zu den Abiturprüfungen wurde er auch nicht zugelassen. Durch seinen Schulkameraden Werner Scholl kam Aicher mit dessen Familie in Kontakt und bald zum Umkreis der Widerstandsgruppe die "Weiße Rose". Die Hinrichtung seiner Freunde Hans und Sophie Scholl zählt sicher zu den traumatischen Ereignissen in Aichers Leben. Das hat ihn mit seiner späteren Frau Inge, der ältesten der Scholl-Geschwister, noch enger zusammengeschweißt.

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Gleich nach dem Krieg 1946 gründeten die beiden die Ulmer Volkshochschule. Dabei ging es um die Kraft der Erneuerung durch Erziehung und Bildung, um die Vermittlung eines humanen Weltbilds, ganz im Sinn der "Weißen Rose". Aicher hat dieses Engagement wie überhaupt sein gesamtes Schaffen mit einem vielsagenden Satz "mein denken war andenken gegen Hitler" erklärt. Aufs Papier gebracht in konsequenter Kleinschreibung, frei nach dem Bauhaus. Und auch der Geist dieser bahnbrechenden Kunstschule Weimars und Dessaus sollte in gewisser Weise mit der 1953 eröffneten Ulmer Hochschule für Gestaltung wieder aufleben.

Dass dort Bauhäusler wie Josef Albers, Johannes Itten oder Max Bill als erster Rektor unterrichtet haben, kam jedenfalls nicht von Ungefähr. Und Aicher gehörte zu den engagiertesten Lehrern. Das lag ihm sehr, und wer sich an seinem fein schwäbelnden Dozieren nicht störte, konnte viel bei ihm lernen.

Aicher war ein Teamarbeiter, aber auch derjenige, der den oft genug autokratischen Ton angab - das passt so gar nicht zu seiner Ethik - und der die Bedingungen stellte. Damit hatten sich genauso die Auftraggeber aus der Industrie abzufinden, sofern sie überhaupt mit ihren Produkten infrage kamen. Und an Aichers rational begründeter, logisch geordneter Gestaltung Gefallen fanden.

Otl Aicher war Gestaltungsbeauftragter der Olympischen Spiele von München 1972  

Aber dadurch hat dieser Designer - die Bezeichnung lehnte er ab - vor allem die visuelle Kommunikation entscheidend bestimmt. Und das nachhaltig. Man denke an das große A im Schriftzug der Firma Braun oder die Optik der Lufthansa und an seine Piktogramme, die bis heute auf Flughäfen, in Stadien oder Krankenhäusern Orientierung geben.

Aichers größter Erfolg waren allerdings die Olympischen Spiele, die der Welt ein sympathisches Deutschland vor Augen führten. Für dieses vollkommene Gegenbild zu den Nazi-Spielen 1936 in Berlin verzichtete er bewusst auf Rot und Schwarz und jeden Anklang an nationale Farben.

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Lichte Töne wie Hellblau, Hellgrün, Weiß, Gelb oder Orange bestimmten Aichers Skala, die vom "Olympia-Waldi" über die Kleider bis zu den Fahnen die gesamten Spiele durchzogen und eine "leichte", "dynamische", "unpolitische" und "unpathetische" Wirkung entfaltet haben. Die Münchner Abendzeitung titelte damals "Die anderen siegen, wir bleiben heiter". Wie das süddeutsche Barock, möchte man hinzufügen, und Aicher hatte solche Assoziationen sehr wohl beabsichtigt.

Man kann diese Zusammenhänge im famosen Prestel-Band "Otl Aicher. Designer. Typograf. Denker" bis ins Detail nachvollziehen. Winfried Nerdinger, Wilhelm Vossenkuhl und ihre Mitautoren lassen den großen Gestalter greifbar und verständlich werden, unterschlagen aber auch nicht die problematischen Seiten. Der Konsum etwa, den Aicher so sehr bekrittelt hat, wurde durch seine Arbeit ja angekurbelt. Und auch für schnelle Wagen war er durchaus zu haben.

Dass seine Weltsicht zum Ende hin - Aicher starb 1991 bei einem Autounfall - doch pessimistisch geworden war, mag vielleicht erstaunen. Doch eingedenk des Zweiten Weltkriegs verfolgte er das Wettrüsten mit einiger Erschütterung. 1983 beteiligte sich Aicher mit seiner Frau Inge und bekannten Köpfen wie Heinrich Böll, Günter Grass oder Dieter Hildebrandt an der Sitzblockade vor dem US-Waffendepot in Mutlangen. In dieser Zeit entstand eines seiner besten Plakate. "Im schönsten Wiesengrunde" meint man, Bäume in einer herrlich kolorierten Idylle zu sehen. Dabei sind es Raketen. Was Aicher in diesen Tagen sagen würde, kann man sich leicht ausmalen.


Winfried Nerdinger und Wilhelm Vossenkuhl (Hrsg.): "Otl Aicher. Designer. Typograf. Denker" (Prestel, 256 Seiten, 250 farbige Abbildungen, 49 Euro)

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