"Der schrecklichste Mensch der Welt": Vom Suchen und Finden des Lebens
Von Kurt Tucholsky soll der Satz stammen: "Lasst uns das Leben genießen, solange wir es nicht verstehen." Ob oder wie lange das gilt, muss jeder für sich selbst entscheiden. Julie jedenfalls, die nicht zufällig um die 30 Jahre alt ist, wo manches schon gereift, aber noch nicht alles entschieden ist, wählt sie, vorwärts zu leben anstatt rückwärts zu reflektieren.
In einer frühen Szene des fantastischen Films mit dem abschreckend unpassenden Titel "Der schrecklichste Mensch der Welt" denkt Julie in der Wohnungsküche während eines sympathischen Freundschaftsgesprächs mit ihrem Lebensgefährten Aksel daran, ihn zu verlassen. Die Zeit scheint in Gedanken kurz still zu stehen - und in diesem Schwebezustand saust Julie aus der Wohnung, vorwärts ins Freie, ins Leben, weil sie sich gegen das Vorbestimmtsein im durchaus funktionierendem Bürgerlichen entscheidet.
"Der schrecklichste Mensch der Welt" erfrischend ernsthaft
Sie wird abends noch einmal in dieselbe Küchensituation zurückkommen, wo sie Aksel eröffnet, dass sie ihn verlassen wird.
Der Film des Norwegers Joachim Trier war im Canneswettbewerb, hat eine Oscarnominierung hinter sich, weil er auf erfrischende Weise Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit vereint und Renate Reinsve eine derart starke Schauspielerin ist, dass sie uns hineinzieht in ihre Suche nach Richtung - im Sinne von Studium, Jobs, Partnerschaftsmodellen.
Interessant ist es dabei auch, dass der Film aus einem gewohnt progressiv-liberalen Skandinavien stammt. Hier sind die Männer klarer mit den Emanzipationsregeln der Frauen konfrontiert, sind vorsichtiger, wenn es um Flirt, Sex und Worte geht, was den Frauen sichtlich und spürbar mehr Freiraum schafft. Auch das wird natürlich und daher undogmatisch diskutiert, bei einer schönen Landpartie zu verheirateten Freunden mit Kindern, wohin Julie einen aktuellen Liebhaber mitbringt und damit die schon länger eingespielten Paar-Situationen kitzelt.
Ab wann ist etwas Betrug?
Eine amüsante und spannende Situationen ergibt sich mit einem verheirateten Mann, in den sich Julie spontan auf einer Hochzeitsgesellschaft verliebt, in die sie uneingeladen hereinschneit. Sie hat sich noch nicht von Aksel getrennt, und so stellt sich für beide die Frage: Ab wann ist etwas Betrug? Erst beim Sex oder gibt es nicht viel Intimeres - wie ein Flirt - nach dem neckischen Teeniepartyspiel "Pflicht oder Wahrheit"?
Am Ende eines durchaus zeitweise auch melancholischem Driftens, Suchens und Abschiednehmens sind alle reifer - auch wir Zuschauer. Denn nach diesem Film fühlen wir uns wieder offener für das Abenteuer Leben. Dann sind wir vielleicht an dem labilen Punkt, an dem wir das Leben genießen können trotz Bewusstseins seiner Zwänge - und diesen Punkt gilt es möglichst lange zu halten.
Kino: Isabella, Solln sowie ABC,
City, Maxim, Arena (auch OmU) und Theatiner (OmU)
R: Joachim Trier (N,F,S,DK, 121 Min.)
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