Kritik

"Tod auf dem Nil": Was Agatha Christie nicht wusste

Kenneth Branagh hat mit "Tod auf dem Nil" als Regisseur und Hauptdarsteller einen zweiten Krimi-Klassiker neu verfilmt.
Volker Isfort
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Beim Barte des Ermittlers: Kenneth Branagh als Hercule Poirot an Bord eines Nil-Kreuzfahrtschiffes.
Beim Barte des Ermittlers: Kenneth Branagh als Hercule Poirot an Bord eines Nil-Kreuzfahrtschiffes. © Foto:20th Century Fox/Rob Youngson/dpa

Sitzt man aus Versehen im falschen Film? Das mit dem Kinoticket eingelöste Versprechen auf exotischen Breitwand-Eskapismus führt in den ersten Minuten von "Tod auf dem Nil" jedenfalls direkt in die matschig-graue Hoffnungslosigkeit der Schützengräben im Ersten Weltkrieg. Und wir erfahren nach einer fürchterlichen Detonation ein Geheimnis, von dem nicht einmal Agatha Christie etwas ahnte: Die Explosion hat das Gesicht des jungen Hercule Poirot (Kenneth Branagh) entstellt. Auf die Frage, wie sie ihn jetzt noch lieben könne, gibt Poirots Verlobte im Feldlazarett eine tapfere Antwort: "Lass Dir einen Schnurrbart wachsen."

Der orginelle Auftakt stärkt die Hoffnung, Kenneth Branagh habe in seiner zweiten Wiederbelebung von Agatha-Christie-Klassikern nach dem faden, aber kommerziell erfolgreichen "Mord im Orient Express" mehr Mut zur Eigenständigkeit entwickelt.

Und tatsächlich beschränkt der Regisseur und Hauptdarsteller die Veränderung der Vorlage nicht nur auf eine diversere Passagierliste auf der "S/S Karnak". Er stärkt auch das zentrale Motiv: Die Liebe und die Frage, wie weit man für Liebe gehen würde, spielt Branagh mit allen Charakteren durch. Poirot, von Christie eher als Gefühlstölpel und Kopfmensch entworfen, bekommt nun eine emotional wesentlich komplexere Persönlichkeit.

Hercule Poirot ermittelt auf einem Nil-Kreuzfahrtschiff

Seine Distanz zur Damenwelt ist eine selbstgewählte, nachdem sich die Liebe seines Lebens aus dramatischen Gründen nicht erfüllen konnte. Aber natürlich hat Poirot ein besonderes Gespür für die emotionalen Schwingungen an Bord des Nil-Kreuzfahrtschiffs, besonders wenn Salome Otterbourne (Sophie Okonedo) knisternd ein Lied davon singt. Sie ist die musikalische Begleitung des Honeymoons der reichen Erbin Linnet Ridgeway (Gal Gadot) mit ihrem Angestellten Simon Doyle (Armie Hammer). Doch die Fahrt ins Glück wird empfindlich durch die Anwesenheit von Jacqueline (Emma Mackey) gestört, die ihren Ex-Verlobten einfach nicht ziehen lassen will.

Peter Ustinov durfte Ende der 70er Jahre als Hercule Poirot mit Stars wie David Niven, Bette Davis und Mia Farrow für die Verfilmung noch die Originalschauplätze besuchen. Bei Branagh ist die optisch überaus opulent gefilmte Kreuzfahrt mit Tempelschau hingegen ein in England entstandenes Wunderwerk der Technik mit eindrucksvollen Effekten. Diese kontrastieren mit der altmodisch konstruierten Geschichte, die endlich Fahrt aufnimmt, als Linnet Ridgeway erschossen in ihrem Bett aufgefunden wird. Und jeder an Bord könnte der Mörder gewesen sein.

Neuverfilmung von Kenneth Branagh: Unterhaltsame Hochglanz-Ironie

Es dürfte 85 Jahre nach der Veröffentlichung des von Agatha Christie auf einer Nilkreuzfahrt verfassten Klassikers nicht mehr viele Menschen geben, die der Auflösung des Falles gespannt und unwissend entgegenfiebern. Aber die Ermittlungen des belgischen Detektivs, den Branagh mit hochkomischen Marotten und einem bis an die Grenze des Verständlichen getriebenen französischen Akzent ausstattet, haben erstaunlicherweise noch immer ihren Reiz.

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Die unterhaltsame Hochglanz-Ironie findet ihr bitteres Ende jenseits der Leinwand. Der Krimi war bereits 2019 fertig gedreht, der Kinostart der aufwendigen Disney-Produktion wurde wegen Corona auf Eis gelegt. Danach wurden schwere Vorwürfe sexueller Übergriffe gegen Darsteller Armie Hammer bekannt. Die Polizei ermittelt noch. "Tod auf dem Nil" dürfte für lange (oder alle) Zeit sein letzter Film gewesen sein. Und ob Branagh sich noch einmal den gigantischen Schnurrbart aufkleben darf, wird wohl an der Kinokasse entschieden.

R: Kenneth Branagh (USA, 127 Min.),
K: Astor Film Lounge im Arri, Astor im Bayerischen Hof, Cinema (OV), Cinemaxx, City-Atelier (OmU), Gloria, Kino Solln, Leopold, Mathäser (auch OV), Museum Lichtspiele (OV), Neues Maxim (OmU), Rio, Royal

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