Filmkritik zu "Das Ereignis": Im Mut der Verzweiflung
Abends gehen drei Kommilitoninnen aus ihrem nahen Studentinnenwohnheim noch zur Party in die offene Mensa auf dem Campus. Junge Männer stehen herum und hoffen auf Flirts und mehr. Und würden die jungen Frauen nicht alle Röcke und die Jungs Hemden tragen, würde die Musik nicht zwischen Rock- und Beat wechseln, es könnte eine Geschichte von heute sein. Und in konservativen Gegenden der USA, vielleicht in Polen wäre es vielleicht auch noch so. Aber wir sind im Jahr 1963 - ein Frühsommer vor den Semesterferien in einer französischen Stadt unweit von Bordeaux.
"L'événement - Das Ereignis" heißt die Verfilmung eines französischen, autobiografischen Bestsellers von Annie Ernaux. Und im so unbestimmten Wort "Ereignis" steckt auch Unaussprechlichkeit in dieser vorliberalen Gesellschaft: vorehelicher Sex, Schwangerschaft? Anne wird es niemanden sagen. Und wer ist der Mann? Auch wir Zuschauer dürfen es anfangs nicht wissen. Und er wird sich als untauglich und zu feige herausstellen, um das Problem gemeinsam anzugehen.
"Das Ereignis": Geschlechtergrenzen werden unwichtig
Was mache ich jetzt? Anne muss die Schwangerschaft verbergen, um nicht von der Uni und aus dem Studentenwohnheim zu fliegen. Aber sie will das Kind nicht behalten. Die Examina stehen bevor, sie ist zu klug und ehrgeizig, um sich die Zukunft durch ein nichteheliches Kind zu ruinieren. Und wir gehen mit ihr, die alles mit sich alleine ausmachen muss: in Sprechstunden, aufs Zimmer, wo eine Stricknadel den grausamen Spuk und das Spießrutenlaufen bei Ärzten beenden soll, bis hin zu einer Engelmacherin.
Die 41-jährige Regisseurin Audrey Diwan hat in Venedig - wo sie den Goldenen Löwen für "Das Ereignis" bekam - gesagt, sie hoffe, dass dieses brutal Körperliche des Weges von Anne die Zeit, in der der Film spielt, den Ort und die Geschlechtergrenzen beim Zuschauer unwichtig machen kann. Und das ist sicher gelungen.
Eine nicht dämonisierte, aber beklemmende Umwelt
Denn jeder leidet mit dieser jungen Frau und ihrer einsamen Entscheidung mit in einer Welt, die sie allein lässt. Das Beklemmende ist dabei nicht nur, dass es immer auswegloser und auch lebensgefährlicher wird, je länger keine Lösung gefunden ist. Sondern auch, dass die Umwelt dabei nicht dämonisiert wird, aber eben zu befangen ist in Tradition, Gesetzen und Tabus, um zu helfen - wie die leicht verhärmte Mutter (Sandrine Bonnaire). Zusammen mit ihrem netten Mann hat sie den Aufstieg aus dem Proletariat geschafft und ernährt mit einem Café die Familie. Sie ist nicht kühl, aber selbst nicht frei genug, um Vertrauensperson für die akademische Tochter zu sein.
Die Ärzte wiederum sind kalt, zynisch oder zumindest angstbesetzt, weil ihnen harte Strafen drohen. Und die Unidozenten sind einfach nicht die richtigen Ansprechpartner. Bleiben die Freundinnen? "Ich bin die aufgeklärteste Jungfrau", behauptet eine und zeigt mit einem Kissen, worauf man beim Sex achten sollte, damit er gut wird. Die andere wird erst später - in der Konfrontation mit Annes Lebensgefahr - zugeben, auch schon mal was gemacht zu haben. Und Anne sagt, ohne sich zu outen: "Alle wollen es doch, aber alle sind frustriert."
"Das Ereignis": Eine Emanzipationsgeschichte auf Leben und Tod
Wir sind 1963 am Beginn eines großen Emanzipationsjahrzehnts, an dessen Ende die 68er Revolution stand, als sexuelle Revolution mit Pille und auch mit dem Kampf gegen die Strafbarkeit von Abtreibung. Aber davon kann hier noch niemand etwas ahnen.
"Das Ereignis" ist eine Emanzipationsgeschichte auf Leben und Tod, dargestellt an einem Mädchen, das gar nicht übertrieben emanzipiert ist, aber eben zu klug und ehrgeizig, um nicht zu studieren und ihr Leben ruinieren zu lassen. Das stellt Anamaria Vartolomei so spürbar dar, dass es einen mitreißt. Und der einzige Grund, warum man nicht verzweifelt ist die Stärke dieser jungen Frau, deren Spielraum immer kleiner wird, je weiter die Schwangerschaft fortschreitet. Aber der Film liebt sie: Die Kamera schaut ihr mit uns oft über die Schulter, hält ihr den Rücken frei.
Am Ende ist man auch als Zuschauer um Erfahrungen, um eine psychologische und gesellschaftliche Reise bereichert, die - vielleicht in veränderter Form - auch heute immer noch nicht abgeschlossen ist.
Kino: City, Solln sowie Arena, Isabella (auch OmU), Theatiner (OmU)
R: Audrey Diwan (F, 100 Min.)
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