Interview

Audrey Diwan über "Das Ereignis": "Alle haben sie allein gelassen"

"Das Ereignis": Audrey Diwan erklärt ihre Erschütterung durch die wahre Bestsellergeschichte, die sie verfilmt hat.
Margret Köhler |
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Anne (Anamaria Vartolomei) träumt von einer beruflichen Zukunft als Schriftstellerin.
Anne (Anamaria Vartolomei) träumt von einer beruflichen Zukunft als Schriftstellerin. © Prokino

Interview mit Audrey Diwan: Die 41-jährige Filmregisseurin, Drehbuchautorin, Journalistin und Verlegerin aus Frankreich gewann mit ihrem Abtreibungsdrama "Das Ereignis" verdient beim vergangenen Filmfestival Venedig den "Goldenen Löwen".

Die Verfilmung des autobiografischen Bestsellers von Annie Ernaux über eine Studentin, die Anfang der 60er Jahre ungewollt schwanger wird und heimlich abtreibt, ist ein emotionaler Hammer. Der Film ist auch ein Fanal, nie mehr das Recht auf weibliche Selbstbestimmung aufzugeben.

AZ: Madame Diwan, war Abtreibung schon zuvor ein Thema für Sie oder kam das Interesse durch den Kontakt zur Buchautorin Annie Ernaux?
Audrey Diwan: Ich hatte vor einigen Jahren selbst eine Abtreibung und musste allerdings nicht mit einer Stricknadel wie Anne an mir herumexperimentieren. Auf das Buch bin ich spät gestoßen und war nicht nur erschüttert, sondern wütend. Da habe ich gemerkt, wie groß der Unterschied zwischen meinen Überlegungen war und dem, was in den 60er Jahren passierte. Annies traumatische Erfahrungen waren schlimmer, als alles, was ich mir je vorstellen konnte. Um ein höchstmögliches Maß an Authentizität zu bekommen, habe ich sie gebeten, die Drehbuchfassungen zu lesen. Ich wollte sicher sein, dass die Geschichte ehrlich erzählt wurde.

Soziale Ächtung als Strafe für "Unsittlichkeit"

Was hat Sie berührt?
Da ist eine junge Frau, die frei sein will, als erste in der Arbeiterfamilie studieren darf und ihr ganzes Leben vor sich hat. Dann wird sie schwanger. Wie sie jetzt ihre gesamte Kraft aufbietet, eine Lösung zu finden. Was mich erbost hat, war der Umgang mit weiblicher Sexualität, diese scheinheiligen Moralvorstellungen. Soziale Ächtung galt als Strafe für "Unsittlichkeit". Die Verantwortung für die Schwangerschaft wurde allein der Frau angelastet.

Ihre Darstellung der Abtreibung bei der Engelmacherin ist brutal.
Ich wollte nicht auf Teufel komm raus schockieren oder provozieren, muss allerdings gestehen, dass ich im Schneideraum manche harte Szene kürzen wollte. Aber ich fühlte mich verpflichtet zu zeigen, was den Körpern der Frauen angetan wurde. Wegschauen ist keine Alternative. Bei einer illegalen Abtreibung standen Schwangere unter Zeitdruck, setzten oft ihr Leben aufs Spiel. Obgleich wir heute in einer liberaleren Gesellschaft leben, herrscht bei diesem Thema immer noch dröhnendes Schweigen. Von diesem Schweigen handelt mein Film. Woher kommt diese Scheu, offen darüber zu reden? Abtreibung gilt immer noch als Tabuthema. Als wir vom Team mal zusammen saßen, stellte sich plötzlich heraus, fast alle weiblichen Teammitglieder hatten schon eine Abtreibung hinter sich.

Heute können wir in eine Klinik gehen.
Im Vergleich zu anderen Staaten sind wir privilegiert, aber keine Frau macht einen Schwangerschaftsabbruch so nebenbei, sondern fühlt sich in einer Ausnahmesituation, hat Angst und hadert mit sich und den Folgen. Und wir vergessen, dass Frauen in vielen Ländern immer noch kämpfen müssen. Nehmen Sie Polen, da müssen Schwangere nach Deutschland reisen, weil es in ihrem Land fast unmöglich ist, Hilfe zu finden. Oder Texas, wo man die Regeln wieder zu Lasten der Frauen zurückschraubt. Und ich hoffe, dass mein Film auch in diesen Ländern gezeigt wird.

Wo er sicherlich eine heftige politische Debatte auslöst...
Und vielleicht auch einiges in den Köpfen der verantwortlichen Politiker in Bewegung setzt. Nur: Ich will keine fertige Botschaft verkünden, sondern Fragen in den Raum stellen. Es bleibt jedem überlassen, wie er damit umgeht.

Ein Film kann nicht die Welt verändern, aber Anstöße geben

Glauben Sie, dass Kino etwas bewegen kann?
Ein Film kann nicht die Welt verändern, aber kann Anstöße zu geben, sich Gedanken zu machen, was schief läuft, also eine Diskussion auslösen, den Status Quo hinterfragen. Deshalb ist mein Film für Jung und Alt, Frauen und Männer. Nach der Vorführung in Venedig bekam ich den Eindruck, dass sich alle angesprochen fühlten. Am Herzen lag mir, die Verlorenheit und Verzweiflung der jungen Frau zu vermitteln. Es tut sich etwas in ihrem Körper, was sie sich nicht erklären kann. Sie ist auf sich zurückgeworfen, kann sich niemandem anvertrauen, selbst ihrer Mutter nicht. Diese Einsamkeit ist elendig.

Wenn Annes Jugendfreund ihr näher kommen will und sagt, es bestehe keine Gefahr, sie sei ja schon schwanger, möchte man ihm an die Gurgel gehen. Und dann die Ärzte...
Die Äußerung ihres Jugendfreundes entspricht dem damaligen Rollenverhalten. Auch der Erzeuger verhält sich feige, zieht sich zurück. Diese totale Ignoranz gegenüber Frauen tut weh. Die Ärzte steckten in einer Zwickmühle. Ich wollte nicht alle verdammen. Es gab die Hardliner und diejenigen, die Verständnis zeigten, aber sich nicht trauten, einen Eingriff vorzunehmen. Sie riskierten damit ihren Beruf.

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Anamaria Vartolomei spielt großartig alle Nuancen aus.
Sie ist wunderbar und verfügt über eine wahnsinnige Ausstrahlungskraft und gleichzeitig absolute Zartheit, sowie etwas Geheimnisvolles. Ein Glücksgriff. Die Kamera ist ständig bei ihr, wird eins mit ihr. Eine wichtige Rolle spielt auch ihr Atem als akustisches Element. Und dann die Stille, die über vielen Szenen liegt. Wie kann man Stille rüberbringen? Wir haben versucht, ihre inneren Monologe verständlich zu machen, ihre Gedanken, ihre Gefühle. Das ging nur durch ihre Wahrhaftigkeit und starke Präsenz, die selbst im minimalistischen Spiel zum Ausdruck kommt. Ein wesentlicher Aspekt war, sie nicht als gehetztes Opfer darzustellen, sondern trotz allem als eine Frau mit Willenskraft, die eine Entscheidung fällt für ihre Zukunft und die zu ihrem Begehren und ihren Sehnsüchten steht.

Sind Sie mit Ihrem Projekt offene Türen eingerannt?
Wenn es nur so gewesen wäre! "Das Ereignis" ist mein zweiter Film, da hat man mir nicht den Roten Teppich ausgerollt, zumal ich nicht mit großen Schauspielernamen aufwarten konnte. Ich musste mich ins Zeug legen, meinen Standpunkt verteidigen. Ein permanentes Totschlagargument: Sowas wolle doch niemand im Kino sehen!

Sie setzen sich im Verband "collectif 50" für Geschlechterparität und gleichen Lohn in der Filmbranche ein.
Eine politische Frage. Wir waren auf einem guten Weg. Aber der Lockdown hat kleine Erfolge wieder zunichtegemacht. Die traditionellen Rollenbilder verstärkten sich erneut. Frauen waren die Leidtragenden, kümmerten sich neben Homeoffice um die Kinder, ihnen wurde alles aufgehalst bei dieser Rolle rückwärts. Wir sollten nicht reden oder bitten, sondern Frauen im Team beschäftigen, Mädchen für "Männerberufe" begeistern. Nicht nur hoffen und uns schon mal gar nicht auf andere verlassen, sondern kämpfen.


"Das Ereignis": 31. März, blendet sich nach der Vorstellung (19.30 Uhr) das City Kino in die bundesweite Live-Veranstaltung ein mit Kristina Hänel (Ärztin), Dörte Frank-Boegner, (Bundesvorsitzende pro familia), Leonie Steinl (Vorsitzende der Kommission Strafrecht/ Juristinnenbund)

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