Edgar Reitz zeigt "Heimat" als zweitägiges Gesamtwerk
Mitte der 80er war es ein Straßenfeger: 15 Millionen Bundesdeutsche saßen vor dem Fernseher und sahen die Serie „Heimat“ von Edgar Reitz. In einem Dorf im Hunsrück wird die deutsche Geschichte fast des gesamten 20. Jahrhunderts erzählt. Am Wochenende wird „Heimat“ als Gesamtwerk über zwei Tage hinweg im Arri Kino an der Türkenstraße 91 gezeigt. Eine fantastische Chance, wie der Regisseur im Interview erklärt.
AZ: Herr Reitz, warum soll man sein Wochenende für Ihr großes Werk opfern?
EDGAR REITZ: Das ist nicht so ungewöhnlich, wie es scheint: Es ist doch im Trend, sich mit Freunden zu treffen und gemeinsam eine Staffel einer Fernsehserie am Stück anzuschauen. Nur so wird man in die Geschichte wirklich reingezogen.
Als „Heimat“ im Fernsehen lief hatten Sie über 15 Millionen Zuschauer, aber die Geschichte war damals eben aufgeteilt in elf Fernsehteile.
Jetzt kann man das, was als Ganzes gedacht war, als Ganzes erleben - und noch im Kinoformat. Das bekommt einen einzigartigen Sog. Es wird ein wunderbares Gemeinschaftserlebnis. Denn es wird ja Catering geben, mit warmer Mahlzeit sowie Kaffee und Kuchen und Getränke. Und wir Filmemacher sind auch dabei.
War es 1984 eigentlich provokativ, den Film „Heimat“ zu nennen? Es war damals noch ein vergifteter Begriff.
Es gab sogar drei Vergiftungen: die Nazizeit, die den Begriff verseucht hatte, dann den unerträglich süßlichen Heile-Welt-Heimatfilm der Nachkriegszeit und natürlich – bis heute – die volkstümliche Musik. Aber ich habe darauf keine Rücksicht genommen. Mit war immer klar, dass ich mit dem Begriff etwas anrühre, dass unkontrollierbare Gefühle in sich trägt: größte innere Erregung, Beklemmung und Ablehnung bis hin zu sentimentaler, sehnsüchtiger Liebe.
Auch Ihre Figuren sind ja wunderbar und erschreckend vielschichtig.
Ich kann von keiner sagen, dass ich sie bedingungslos liebe, aber auch nicht das Gegenteil.
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Das ist ein Bruch der klassischen Filmdramaturgie mit klarem Gut-und Böse-Schema.
Ja, Widersprüchlichkeiten werden in der klassischen Dramaturgie oft ausgeklammert, weil sonst der Konflikt nicht so klar funktioniert. Aber Ambivalenz ist ja das zutiefst Menschliche. Nehmen wir das emotional überladene Feld der Liebe der Mutter zu ihrem Kind. Die gilt sicher, aber auch nicht immer. Und dann: Wenn das Kind erwachsen geworden ist, erinnert es sich und wird der Mutter auch vieles vorwerfen, was es ganz anders empfunden hat als es die Mutter – vielleicht sogar gut – gemeint hat. Das gilt auch zwischen Liebes- und Ehepaaren. Die wesentliche Dinge sind großen Zwiespältigkeiten ausgesetzt. Wenn man das so belässt, werden die Figuren fast unheimlich lebendig. Nur so kann man Zuschauer über viele Stunden faszinieren, ohne dass es je langweilig wird.
Vor einigen Jahren haben Sie das ja schon einmal bewiesen im Prinzregententheater mit der „Zweiten Heimat“.
Ja, da waren 1000 Zuschauer über drei Tage da und keiner ist weggelaufen. Und diesmal hat man die Chance mit „Heimat“ und ich verspreche, jeder wird eine ganz besondere Erfahrung machen: Man wohnt plötzlich wirklich in diesem Dorf Schabbach im Hunsrück, die Leute werden echte Nachbarn. Diese Welt wird für uns die wirkliche für eine gewisse Zeit. Wo kann man so etwas sonst noch so faszinierend, intensiv, ja erfahrungs-erweiternd erleben?
30 Jahre nach der Fernsehausstrahlung haben sich das Publikum und die Zeit deutlich verändert.
Ja, wie auch der Umgang mit der deutschen Geschichte. Und ich merke, dass mein Film dabei völlig aktuell, ja noch zeitgemäßer geworden ist.
Inwiefern?
Als der Film 1984 raus kam, war bei uns Deutschen noch alles überladen von Affekten. Da gab es klare Vorstellungen, worüber man reden darf und worüber nicht, wer Täter war, wer Opfer. Der Film aber verletzt diese Schwarz-Weiß-Regeln und das Gefühl: die Nazis waren immer die anderen. Heute gelten diese Regeln ohnehin nicht mehr, da ist nichts mehr tabu-belastet. Der Film zeigt zum Beispiel, wie junge Menschen auf eine natürliche, fast harmlose Weise in diese tödliche Zeit des Nationalsozialismus hineinwachsen. Aber „Heimat“ spannt ja den größeren Bogen vom Ersten Weltkrieg bis Anfang der 80er.
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Gibt es eigentlich einen Anlass, dass Sie „Heimat“ genau jetzt noch einmal am Stück zeigen?
Anlässe findet man ja immer, aber hier gibt wirklich einen: Das Filmmaterial war Jahrzehnte nicht mehr brauchbar. Aber im digitalen Zeitalter sind die Restaurierungsmöglichkeiten sehr gut, aber vor allem interessant. Und wir haben fünf Jahre daran gearbeitet.
Ist digital Restaurieren mehr als einfach abtasten und elektronisch speichern?
Im ersten Schritt nicht. Aber dann fangen die Entscheidungen an, denn das digitale Material hat erst einmal die ganzen Veränderungen des alten Filmmaterials mit aufgenommen. Aber jetzt kann man eben noch einmal alles verändern – Farben, Helligkeit, Bildstruktur.
Was war die Grundlage der Nachbearbeitung?
Die Originalnegative, die damals durch die Kamera gelaufen sind. Die rührt man normalerweise nicht an. Sie lagern im Bundesarchiv.
Eine Art Riesenkühlschrank.
Ja, aber es gibt chemische Alterungs- und Veränderungs-Prozesse, die sind nicht aufhaltbar.
Und woran haben Sie gemessen, wie es neu aussehen soll?
Es waren nur die Erinnerungen an Farben, Stimmungen und Kontraste von meinem Kameramann Gernot Roll und mir.
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Was verändert eine Digitalisierung am Film?
Ein digitales Bild setzt sich anders zusammen. Das sieht und empfindet man auch: elektronische Pixel sind keine stofflichen Farbpigmente. Beim früheren Filmbild ist es wie in der Malerei: Es sind echte Farbmischungen. Das digitale Bild aber ist nicht mehr gekörnt. Und so haben wir uns entschieden: Wir nehmen die höchstmögliche digitale Auflösung – und die ist dann so genau, dass man die einzelnen Farbkörner des analogen Films noch sehen kann. Film war immer schon eine Kunst der Reproduktion. Wir sehen ja immer nur Kopien, nie das Original. Das ist auch beim Digitalen so, aber die Kopien nutzen sich nicht mehr ab und das ist – bei aller Nostalgie – ein Fortschritt.
Was erwarten Sie sich vom kommenden Wochenende, nachdem Sie selbst ja jede Szene schon so gut kennen?
Ich werde von diesem Ausnahmeereignis genauso bewegt sein wie alle anderen Zuschauer auch.
Edgar Reitz: „Heimat - Eine deutsche Chronik“: Sa, 6. Juni, ab 13 Uhr (bis ca 22 Uhr); So, 7. Juni, ab 11 Uhr (bis ca 20.30 Uhr), Arri, Türkenstr. 91
Karten: Tel.: 388 99 664 oder 54 81 81 81, muenchenticket.de. für beide Tage zusammen: 35 Euro (Studenten 25 Euro) inklusive 2 Mittagessen, Kaffee/Kuchen