Documenta in Kassel: Ist das Leben nicht schon Kunst?
Auf einer Bierbank liegen Kräuter und Orangenschalen zum Trocknen. Für eine vietnamesische Sauna unter einem Leintuch ist das noch ein bisschen wenig, aber wer Minze, Basilikum oder sonst was beisteuern möchte, sei willkommen, sagt Tuan. Im Gegenzug bietet er einen Kaffee und eine Führung durch Gemeinschaftsküche und Minischlafsaal.
Gemeinschaft und Teilen als Lebensmottos
Tuan gehört zum Nhà Sàn Collective, das so ziemlich alles lebt, was die indonesischen Documenta-Kuratoren von Ruangrupa proklamieren: also Gemeinschaft, Teilen - auf dem Herd steht tatsächlich ein großer Reistopf, auf dem Tisch bloß eine Flasche Wein - und gerne mal chillen. Liegestühle sind aufgestellt, nur der Grill muss kalt bleiben, weil sich die Nachbarn bereits beschwert haben.
Aber so ist das, wenn Welten oder Lebensentwürfe aufeinandertreffen. Auch das wird auf der 15. Documenta ungewollt vor Augen geführt, und wie fast immer hätte man eben vorher reden müssen, sich vorstellen. Oder nachdenken. Das ist bei den Kollegen von Nhà Sàn nicht anders. Im vorderen Teil des kreativ heruntergekommenen Ex-Jugendclubs WH22 unweit des Kasseler Hauptbahnhofs sitzen die palästinensischen Künstler von The Question of Funding.
Zwischen Blütengebilden und realem Krieg
Die Gruppe soll der israelkritischen Boykottbewegung BDS nahestehen, in ihren Räumen haben Unbekannte vor ein paar Wochen gewütet und Wandschmierereien mit Todesdrohungen hinterlassen. Davon ist nichts mehr zu sehen. Stattdessen wird jüngere palästinensische Kunst vorgeführt, die zwischen harmlosen Blütengebilden und realem Krieg ganz unterschiedliche Felder absteckt.

Die Bomben explodieren in dürftig reproduzierten Gemälden von Delacroix' "Freiheit" und Van Goghs "Kartoffelessern". Und wäre da nicht der Serientitel "Guernica Gaza", der auf Picassos Antikriegsklassiker von 1937 anspielt und damit die vernichtenden NS-Truppen mit Israel in Verbindung bringt, würde man zurzeit eher an den russischen Angriffskrieg in der Ukraine denken.
Befindlichkeiten des "Globalen Nordens" sind unwichtig
Das ist leidlich plakativ. Aber wer ein Kollektiv aus dem sogenannten "Globalen Süden" einlädt, das wiederum weitere 30 Kollektive bestimmt, um im Großverbund die Documenta zu stemmen, muss damit rechnen, dass Vorstellungen und Befindlichkeiten des "Nordens" keine Rolle spielen. Und dass sich in dieser riesigen Amöbe von 1.500, vielleicht sogar 1.700 Künstlerinnen und Künstlern nicht alle die politischen Kodizes des Gastlandes auf die Fahnen gepappt haben.
Wobei in vielen Konflikten beide Seiten Recht und Unrecht haben können, so banal das klingt. Dass etwa der indonesische Kolonialismus auf Papua-Neuguinea nirgends eine Rolle spielt, dürfte auch damit zu tun haben, dass Ruangrupa in ihrer Heimat erwartbarem Ärger aus dem Weg gehen wollen. Oder müssen?
Eine Plattform, um auch auf persönliche Belange aufmerksam zu machen
Auf der anderen Seite darf man Ruangrupa mit ihrem Slogan "Make Friends, not Art" keineswegs unterschätzen. Was sich nach Friede, Freude und viel nachhaltigem Eierkuchen für alle anhört, beschert natürlich nicht die Kunst, die der gemeine Museumsgänger erwartet. Vielmehr gewähren die Kollektive Einblicke in andere Lebenssituationen.
Und selbstredend nutzen sie die Plattform der neben der Venedig-Biennale immer noch wichtigsten Großschau für zeitgenössische, nun ja, Kunst, um auf die Belange ihrer Länder und Volksgruppen, ihre Sorgen und genauso ihre Traditionen und Vertreibungen aufmerksam zu machen. Oder auf ihren Humor.

Angus Nur Amal zum Beispiel zieht als Geschichtenerzähler durch seine Provinz Aceh auf Sumatra. Ein Pappfernsehschirm dient als Theater, in dem er mit allerlei Zeug aus dem quietschbunten Alltag Witziges bis Beinhartes zu schräg gesungenen Episoden strickt. Das hat was vom Kasperle im Kindergarten, keine Frage, aber Spötteln und Lachen tun Wirkung, Kabarett auf Indonesisch sozusagen.
Pop-Art-Bilder voller Gewalt und Demütigung
Und selbst der Aborigine Richard Bell ist aufs Erste komisch unterwegs, wenn er von den Neu-Australiern grinsend Miete verlangt. Miete dafür, dass sie es sich auf einem Kontinent bequem gemacht haben, der ihnen so wenig gehört wie eben ein gemietetes Haus. Eine Aboriginal Embassy bzw. Botschaft hat er deshalb vor dem Fridericianum eingerichtet, dabei sind Bells stark aufgeladene Pop-Art-Bilder letztlich voller Gewalt und Demütigung.
Sie zählen zu den wenigen, aus westlicher Sicht leicht zu lesenden Positionen. Oft bleibt es dagegen im Ungefähren, in der Ansammlung von Gegenständen, Krimskrams, und immer wieder landet man auf der Schulbank wie im zentralen "Ruruhaus", der Info- und Anlaufstelle für Documenta-Besucher: "Bienen halten Ökosysteme im Gleichgewicht, doch wir bedanken uns, indem wir ihre Lebensräume dezimieren, sie mit Pestiziden belasten...". Davon könnte man schon einmal gehört haben.
Auch vom Schicksal vieler Migranten, die im Trampoline House in Kopenhagen Unterstützung finden. Und dennoch sind die Schilderungen der Betroffenen in einen künstlerisch anregenden Kontext gestellt - ein Kreidekreis versinnbildlicht ein Schloss oder eher ein Gefängnis? Genauso will man die Prinzessinenkleider aus Seilen nicht am Leib haben.
Eindringliche Plakate zum Schweinekapitalismus
Formal anziehend, und das ist die Ausnahme, wirken die Marionetten, die schrillen Holzskulpturen und Teppiche der Fondation Festival sur le Niger im Hübner Areal, einem ehemaligen Fabrikgelände im Arbeiterviertel Bettenhausen. Die von einem Unternehmer aus Mali gegründete Stiftung auf der Basis von Gastfreundschaft, Selbsterkenntnis und -beschränkung sowie Humor bildet junge Künstler und Kulturorganisatorinnen aus und hilft beim Vertrieb ihrer Arbeiten.
Politaktivisten haben das nahe Hallenbad-Ost eingenommen. Mit eindringlichen Wimmelplakaten aus der Welt des Schweinekapitalismus. Zumindest blinkt der Dollarsack hinter einem fies grinsenden Eber, der einen Soldaten mit Höllenhundsfratze und Maschinengewehr von hinten, also unter der Gürtellinie, antreibt. Drumherum Elend, Totenköpfe. Das indonesische Kollektiv Taring Padi lässt es krachen und hat sein Bildpersonal auch gleich vergrößert und ausgeschnitten im Garten und vor der Documenta-Halle verteilt.
Alte Kunst-Vorstellungen müssen in den Hintergrund
Dort überzeugt die regimekritische Tania Bruguera, eine der wenigen bekannten Künstlerinnen, die in ihrer Heimat Kuba als Persona non grata gilt und also in ihrer imposanten Arbeit Gesichter der von der Zensur betroffenen Künstler auf Pfähle gespießt hat. Dahinter steckt auch die Angst vor Verfolgung und Repression, die einige der vertretenen Kollektive längst nicht nur vom Hörensagen kennen.
Wahrscheinlich muss man die alten Kunst-Vorstellungen erst einmal auf die Seite schieben. Allerdings wird am Kunstbegriff seit Jahrzehnten gesäbelt, vielleicht nicht mit dieser geballten Wohlfühlatmosphäre (Kirchentage sind dagegen Spitzentreffen der Schwerindustrie), und gerade auf der Documenta. Wer den eurozentrischen Blick verdammt, muss damit klarkommen. Und für den Markt ist das kein Problem, der funktioniert munter weiter. Davon abgesehen sind Sammler zu allem fähig.
Documenta 15, bis 25. September, www.documenta-fifteen.de
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