Kritik

"Tschaikowski-Ouvertüren": Klassisch gespannter Bogen

Bayerisches Staatsballett: "Tschaikowski-Ouvertüren" als Neukreation von Alexei Ratmansky.
Vesna Mlakar |
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"Hamlet", eindringlich verkörpert von Osiel Gouneo, gleitet am Ende tot zu Boden.
"Hamlet", eindringlich verkörpert von Osiel Gouneo, gleitet am Ende tot zu Boden. © Nicholas MacKay

Wer hätte darauf gewettet? Das Bayerische Staatsballett präsentiert einen famosen neuen und doch klassischen Ballettabend. Jeder kann dabei selbst entscheiden, wie die drei Teile, denen Tschaikowskis Fantasie-Ouvertüren "Hamlet", "Der Sturm" und "Romeo und Julia" unterlegt sind, in ihrem Spannungsbogen gelesen werden können: einzeln oder als Gesamtkonstruktion.

Denn unablässig ziehen erzählerische Momente die Wahrnehmung innerhalb eines eher abstrakten Ganzen auf sich. Raffiniert hat Choreograf Alexei Ratmansky einen Fluss aus überschaubarem, sich auch wiederholendem Schrittmaterial hergestellt.

Immer wieder lösen sich Solisten aus dahinpreschenden Gruppen, treffen sich für kurze Passagen zu zweit, dritt oder viert und werden alsbald wieder von Ensemblereihen davongetragen.

Tänzer in ihrem Ausdruck emotional aufgeladen

Auffallend ist, dass sich die jeweiligen Einzelteile gut und gern als eine Art Fortführung von George Balanchines ebenfalls im Staatsballett-Repertoire befindlichen Triptychon "Jewels" lesen lassen. Neu kommt hinzu, wie stark die Tänzerinnen und Tänzer hier in ihrem Ausdruck emotional aufgeladen sind.

Die musikalisch zugrunde liegenden Shakespeare-Dramen werden so – in der kondensierten Form der Ouvertüren – szenisch fassbar. In "Tschaikowski-Ouvertüren" ist es Ratmansky – ein Romantiker und unter den aktuell bedeutsamsten Tanzschöpfern der klassizistischste – gelungen, alles zu einem Amalgam aus Tradiertem und Zeitgenössischem zu verweben.

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Tschaikowskis "Elegie" der Uraufführung vorangestellt

Der Uraufführung vorangestellt ist Tschaikowskis "Elegie", der Schlussteil ist um ein Gesangsduett (Elmira Karakhanova und Aleksey Kursanov) erweitert. Es gibt in der "Elegie" Augenblicke, da scheinen Klang und Bewegung zu explodieren. In manchen Phrasen bricht sich alle Fatalität und Unaussprechliches in einem einzigen Körper Bahn: Paraderolle für einen neuen Münchner Supertänzer, den 22 Jahre jungen Kanadier Shale Wagman – ballettös manieriert und zugleich engelhaft schlicht.

Drei der Hauptpaare bestreiten als Romeo(s) und Julia(s) den Schlussteil: Maria Baranova mit Kompanie-Neuzugang Julian MacKay (ein exquisites Duo!), Margarita Grechanaia/Vladislav Kozlov und Jeanette Kakareka/Rafael Vedra. Furios werden diese von sechs weiteren Paaren flankiert, die sich immer wieder auflösen, um – nach Männern und Frauen getrennt – Blöcke zu formen und dann Baranova und MacKay die Luft zu tragen.

Zweimal baut Ratmansky hier Gruppenschnappschuss-Effekte ein. Die Tänzer laufen vor zur Rampe und blicken das Publikum direkt an. Eine hübsche Aufforderung, daran teilzuhaben, was (ihnen) passiert. In diesem beeindruckenden Gesamtkunstwerk aus Musik, Choreografie und mobilem Dekor funktioniert das Schlag auf Schlag. Bevor der letzte Vorhang fällt, erhascht man noch Romeos und Julias Liebeskuss.

 

António Casalinho mit 19 Jahren zum Solisten ernannt

Die emotional verkorkste Kernrolle in "Hamlet" verkörpert Osiel Gouneo eindringlich. Ein Paukenwirbel geht seinem Auftritt voran. Als verdüsterter Charakter darf er sich ins Dramatische steigern und morden. Matteo Dilaghi spielt den starken Mann an der Seite von Prisca Zeisel, die – technisch vollendet – Hamlets Mutter passend markante Züge verleiht. Für zwei, drei eindrückliche Pas de deux-Sequenzen als Ophelia tritt Sofia Ivanova-Skoblikova aus der Frauengruppe mit den rosa Tops hervor. Als drastisches Schlussbild des ersten Teils lassen die fünf Toten des Stücks dem Hamlet – im Sterben vor Leid spastisch verkrümmt – langsam rücklings zu Boden gleiten.

Durch den episch auskomponierten "Sturm" wird der Zuschauer dann charmant von Madison Young (Miranda) und Jinhao Zhang (Prospero) geleitet. Außerdem mischen Yonah Acosta (Caliban) und António Casalinho (Ariel) und temperamentvoll mit. Casalinho wurde direkt nach der Premiere zum Solisten ernannt – mit gerade mal 19 Jahren!

Das Damen-Corps trägt hier Tutus und Pferdeschwänze. Wie Wellen oder dahinbrausende Wolken umspielen sie die im Unwetter gestrandete Männerschar. Die Ballerinen werfen uns forsche Blicke zu, wackeln mit ihren Schultern und wippen – trotz Spitzenschuhen – ihre Hüften: das Bild einer Brandung – ausformuliert mit Hilfe des klassischen Schrittvokabulars. Stilistisch ist das ein Schulterschluss mit dem Choreografen Marius Petipa, der das Ballett zu Tschaikowskis Lebzeiten geprägt hat.

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An unterschiedlichste Orte versetzt

Als entscheidender Inspirationsquelle hat sich Ratmansky der melodisch satten Komposition Tschaikowskis – von Mikhail Agrest gesoftet und ungewohnt transparent dirigiert – in ihrer Bewegtheit, Farbigkeit und ihrem Rhythmus bedient. Die farbig zurückgenommene Ausstattung von Jean-Marc Puissant – selbst ehemaliger Tänzer – ist zusätzlich eine visuelle Kommentarebene innerhalb der Stimmungen und Seelenlandschaften.

Nichts in seinem Bühnenbild, das sich ständig verändert, beengt. Ähnlich wie Ratmansky choreografisch vorgeht, werden wir an unterschiedlichste Orte versetzt: an den grausam-gefühlsverlogenen dänischen Königshof bei "Hamlet", auf Prosperos meerumtoste, karge Insellandschaft im "Sturm" und zu Veronas großzügigen Plätzen und in die prächtige Palastanlage der Capulets in "Romeo und Julia".

Derzeit vermag kein anderes Ballettprogramm die herausragende Brillanz des Bayerischen Staatsballetts besser herauszustellen. Höchsten Respekt für ein tolles Wechselspiel aus Anmut, Virtuosität und geometrischer Klarheit! Schade nur, dass das große Stück durch zwei lange Pausen etwas zerrissen wirkt.


Nationaltheater, wieder am 8. April sowie am 5. und 7. Mai, Karten: Tel. 21 85 19 20, tickets@staatsoper.de

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