"Der Nussknacker" im Prinzregententheater: Das Gefühl spricht
München - Weihnachtsmärchen dürfen in Kitsch schwelgen – im Ballett sowieso. Am besten scheint harmlos ästhetische Überwältigung zu funktionieren, wenn man sich – bevorzugt im Familienverband – aus der medienüberfluteten Gegenwart zurück in die Vergangenheit zaristischen Zeitvertreibs versetzen lässt.
Akademie-Absolventen: bis zu acht Monaten Gastspielreisen im Jahr
Genau dafür steht – seit mittlerweile 13 Jahren – das International Festival Ballet: eine Kompanie ukrainischer, polnischer, moldawischer, lettischer, russischer und weißrussischer Akademie-Absolventen, die pro Jahr bis zu acht Monate auf Gastspielreisen unterwegs sind und bis zum Ausbruch des Ukrainekriegs unter ihrem Gründungsnamen "St. Petersburg Festival Ballet" auftraten.
Farbenfrohe Kulissen und dramatische Lichteffekte
Diese Truppe will das Publikum vor allem glanzvoll unterhalten. Junge Tänzerinnen und Tänzer, die in den Zuschauerraum mit ihren rosa, gelb, mintgrün oder hellblau rüschenbesetzten Kostümen strahlen, farbenfrohe Kulissen wie aus dem Bilderbuch und dunkelrot-funkelnde dramatische Lichteffekte gehören da einfach dazu.
Schade, wer sich damit schon zufrieden gibt
Bloß nicht den Kopf zerbrechen über die generelle Ästhetik und manche Handlungsdetails – so lautet offenbar die Devise beim "Nussknacker"-Besuch im Prinzregententheater. Ganz im Sinn der "guten alten Tradition" findet sich hier alles auf absolut zauberhafte Eindrücke getrimmt. Eigentlich schade, wer sich damit schon zufriedengibt.
Tschaikowskys Musik: lediglich vom Band
Das schmucke Anwesen der Familie Stahlbaum versinkt fast im Schnee, und der heitere Tross, der sich darin bald zum Weihnachtsfest versammelt, wird auf dem Weg von projizierten, munter herumspringenden Flocken begleitet. Dass Tschaikowskys eindringliche Musik lediglich vom Band erklingt, muss bei diesem Tournee-Projekt billigend in Kauf genommen werden.
Musikalische Sequenzen live auf einer Orgel
Für unvergessliche Live-Effekte gibt es ja noch die Zuckerfee. Im wirklichen Leben heißt sie Alina Kotsiubynska und macht seit 2014 als Kristal Lady Furore. Die Fingerfertigkeit der Ukrainerin auf einer Orgel aus verschiedengroßen Gläsern bereichert einige musikalische Sequenzen, indem ihr hell klirrender Sound die Melodien vom Tonband überlagert.
Ein schlicht präsentiertes Ballettstück
Doch wozu dient bei geschlossenem Vorhang anfangs und noch einmal nach der Pause das lange akustische Vorgeplänkel? Egal, wenn sogar die Jüngsten im Dunkeln auf ihren Plätzen stillhalten. Ergänzt wurde das im Grunde schlicht präsentierte Ballettstück um einen Moderator im Zylinder, der sich erst der vielen anwesenden Kinder vergewissert und dann, jeweils vor Aktbeginn, kurz schildert, was im Tanz anschließend mittels hübscher Formationen und choreografisch eingängiger Momente anschaulich zusammengefasst wird.
Den ersten Teil rockt darüber hinaus ein gewitzter und zugleich ungeschickter Monsieur Schneider als Pantomime und Clown. Zahlreiche Lacher sind ihm bei seinen magischen Unterbrechungen mit roten Samtstoffrollen oder bei einer Gardinenturnerei sicher. Auf seine Art gibt er das lustige Alter Ego des schneidigen Herrn Drosselmeier – Patenonkel der Geschwister Marie und Franz Stahlbaum –, der hier auch als eine Art Zeremonienmeister fungiert.
Am Ende leuchten Kinderaugen
Auf wundersame Weise hält die Show in ihrer sorglos-vergnüglichen Anmutung dank der zusätzlichen akrobatischen Nummern, die immer wieder raffiniert von schwächeren Passagen ablenken, sogar dem gestrengen Kritiker-Blick einigermaßen stand. Am Ende, als Marie aus ihrem fantastischen Traum erwacht, in dem sie letztlich den in einen Nussknacker verwandelten Prinzen heiratet, leuchten viele Kinderaugen.
Manch' Ältere probieren danach im Freien einige der scheinbar so leichten Posen und Schritte aus, während sich die Erwachsenen über ihre Favoriten unter den Szenenbildern austauschen. Ganz vorne rangiert da der den ersten Teil beschließende Damen-Tutu-Reigen "Schneeflocken-Walzer".
Sind manche Nummern zeitgemäß?
Im zweiten Teil hat besonders das spritzige Duett "Chinesischer Tanz" gefallen, der von einer schwungvollen Fächerakrobatik im Hintergrund begleitet wurde. Gut, dass sich keiner drum schert, ob derartige Nummern mit verfälscht-exotischem Lokalkolorit noch zeitgemäß sind?
Ernüchternd ist freilich: Die tänzerische Qualität und eingebrachte Technik muss nicht immer High-End sein, um Groß und Klein zu begeistern. Schön dagegen, dass die Künstler alles geben, was an Talent in ihnen steckt, und charmant verstehen, dies – wo es passt – auch mit Witz über die Rampe zu bringen.
Wo das Gefühl spricht, schweigt oftmals der Verstand
Das besondere Augenmerk dieser Produktion liegt auf "dem" Ballett-Klischee: die der Kunstform gemeinhin zugeschriebene grazile Anmut und gestische Eleganz. Statt sich den düsteren Seiten der wundersamen Coming of Age-Geschichte von E.T.A. Hoffmann zuzuwenden, wie das zeitgenössische Choreografen in ihren Neufassungen heute zumeist tun, folgt Alexandr Abaturov, der für die geglückt konventionelle Inszenierung verantwortlich zeichnet, der ursprünglichen Vorlage von Marius Petipa und Lew Iwanow weitgehend.
Zur Emotionalisierung des Publikums wird alles Mögliche aufgeboten: von puppenhaften Einlagen vor dem Tannenbaum bis hin zum Kampf einer Armee Pfefferkuchen-Soldaten, die tapfer und mit der gebotenen Streifheit gegen den Mäusekönig und seine wilde Meute antreten. Wo das Gefühl spricht, schweigt oftmals der Verstand.
Noch bis 8.1. im Prinzregententheater, Karten ab 46,20 Euro unter Telefon 089/ 93 60 93 und und Münchenticket
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