"West Side Story": Im quicklebendigen Museum
München - Schon das erste rhythmische Fingerschnipsen, das die erste Nummer des Abends einleitet, ist elektrisierend. Manche sind überzeugt davon, dass dieses Werk das beste Musical aller Zeiten ist. Wer Super-Superlativen nicht traut, kann sich zumindest darauf verständigen, dass die "West Side Story" zum Besten gehört, was diese Gattung bisher hervorgebracht hat.
"West Side Story": Bestes Musical überhaupt?
Als die Kompositionen von Leonard Bernstein mit den Songtexten von Stephen Sondheim zum ersten Mal in Deutschland aufschlugen, waren die Urteile der professionellen Theaterkritik noch nicht ganz so einhellig: Die Musik sei "laut, lärmend, dürftig und gelegentlich von billiger Puccini-Sentimentalität", hieß es, was am anderen Ende des Meinungsspektrums aber als Snobismus solcher, "die immer alles besser wissen" abgekanzelt wurde. Man bewunderte 1961 auch "die unlaubliche Mischung aus hämmernder Motorik und artistischer Perfektion, aus hemmungsloser Romantik und wildem Ungestüm".
Bühnenbildnerin Anna Louizon lässt Backsteinfassaden mitspielen
Und schon damals war das Deutsche Theater der Ort der Deutschland-Premiere. Immer wieder dockte anschließend der New Yorker Kiez an der Schwanthalerstraße an, wie 2014 zur Wiedereröffnung des renovierten Hauses. Damals waren die Straßenschluchten weitläufige Tanzböden mit stilisiertem Bühnenbild. Die Neuinszenierung, die unter Anwesenheit des Komponisten-Sohns Alexander Bernstein vom Premierenpublikum enthusiastisch gefeiert wurde, macht die Räume wieder enger. Bühnenbildnerin Anna Louizon zitiert die ikonisch gewordenen, schmutzig roten Backsteinfassaden mit den charakteristischen Feuerleitern nicht nur, sondern lässt sie mitspielen.
Höchst beweglich, fast tänzerisch bewegt entstehen fließend Außen- und Innenräume. Diese sind geradezu intim und detailfreudig naturalistisch, wie Docs Dugstore, Marias Zimmerchen mit frommem Kruzifix und dem schicksalhaften Balkon, oder der Brautkleider-Laden, in dem Maria und Tony von einer Zukunft zu zweit, "One Hand, One Heart", träumen.
Kein Anflug von Regietheater-Mätzchen
Regisseur Lonny Price garantiert 100 Prozent 50er-Jahre, als das Stück entstand. Kein Anflug von Regietheater-Mätzchen, die das Publikum der Tournee, die für mehrere Jahre von München aus durch die Welt führen wird, beunruhigen könnten.
Das Konzept vertraut vollständig auf die Zeitlosigkeit des Romeo-und-Julia-Plots und kann darauf bauen, dass Hass und Gewalt zum amerikanischen Traum gehören, wie ihn schon damals Bernstein und Sondheim im Ohrwurm-Kracher "America" nicht ohne Ironie vertonten.
Liebende scheinen aus der Zeit gefallen
Aus der Zeit gepurzelt scheinen aber die beiden Liebenden. Tony ist bei Jadon Webster ein charmanter Held vom Typ Siegfried, Melanie Sierra ist eine Maria, deren naive Hingabe schon vor sechs Jahrzehnten nur ein feuchter Macho-Traum gewesen sein kann. Solches Unbehagen bei #Me-Too-Zeitgenossen und vor allem -innen verliert aber sofort an Bedeutung, wenn die beiden singen. Ob solo wie in der Liebeshymne "Maria" oder als Duett, mit dem sie einen Traumort "Somewhere" beschwören, wird ihr kraftvoller Schmelz nie kitschig, sondern sie bringen die Songs zum Funkeln.
Dieses Musical-Museum ist voller Kostbarkeiten. Dazu gehört das von Grant Sturiale geleitete Orchester mit seinem transparenten Klang.
Was da aus dem Graben klingt, ist immer richtig temperiert, ob bei den süßen Sounds der Sehnsucht oder der perkussiven Härte der Straßenschlachten. Basierend auf der Originalchoreografie von Jerome Robbens entfesselt Julio Monge mit einer jungen und energiestrotzenden Truppe die ganze Magie dieses Musicals, die auch 65 Jahre nach der Uraufführung so überwältigend frisch wirkt.
Deutsches Theater, bis 8. Januar, dienstags bis samstags 19.30 Uhr, samstags auch 14.30 Uhr, sonntags 14 und 19 Uhr, Karten:
Telefon 089/55234444