Kritik

"Peter Grimes" im Nationaltheater: Zu schön, um wahr zu sein

Die Neuproduktion von Benjamin Brittens Oper "Peter Grimes" im Nationaltheater.
Michael Bastian Weiß |
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Stuart Skelton im gelben Ölzeug als Peter Grimes (mit Ian Paterson als Balstrode) in Stefan Herheims Inszenierung im Nationaltheater.
Wilfried Hösl 5 Stuart Skelton im gelben Ölzeug als Peter Grimes (mit Ian Paterson als Balstrode) in Stefan Herheims Inszenierung im Nationaltheater.
Aufnahme von "Peter Grimes" im Nationaltheater.
Wilfried Hösl 5 Aufnahme von "Peter Grimes" im Nationaltheater.
"Peter Grimes" im Nationaltheater
Wilfried Hösl 5 "Peter Grimes" im Nationaltheater
"Peter Grimes" im Nationaltheater
Wilfried Hösl 5 "Peter Grimes" im Nationaltheater
Aufnahmen von "Peter Grimes" im Nationaltheater.
Wilfried Hösl 5 Aufnahmen von "Peter Grimes" im Nationaltheater.

Der Junge bleibt stumm. Johns Kleidung ist zerrissen und er hat Würgemale am Hals. Doch singen oder wenigstens sprechen darf er in der Oper "Peter Grimes" nicht. Anstatt ihn zu befragen (und die Polizei einzuschalten), wird ausgiebig über ihn gesprochen.

Aus heutiger Sicht kann man das dem jungen Komponisten Benjamin Britten und seinem Haupt-Librettisten Montagu Slater durchaus vorwerfen: Sie machen das Kind auf der Ebene der Handlung noch einmal zum Opfer.

Krieg und Corona: Ein bisschen viel für eine Opernpremiere

Vor der Premiere der jüngsten Neuinszenierung des Stücks im Nationaltheater offenbart sich ein ähnliches Dilemma, allerdings auf politischer Ebene. Es wäre gefühllos, den derzeit tobenden Angriffskrieg auf die Ukraine zu verschweigen. Auf dem Opernhaus flattert die ukrainische Fahne, auf der Bühne aber äußert sich Staatsintendant Serge Dorny und es wird Beethovens "Ode an die Freude" gespielt, die Europahymne, nicht die ukrainische Nationalhymne.

Vorher wird noch bekanntgegeben, dass Regisseur Stefan Herheim und sein Team die Premiere, die pandemiebedingt schon einmal verschoben wurde, von zuhause aus verfolgen müssen, weil sie kurz zuvor positiv auf Corona getestet wurden. Krieg in Europa und Gesundheitskrise: Das ist ein bisschen viel für eine Opernpremiere und ihre Kritik.

"Peter Grimes" im Nationaltheater: Ungefähr und ästhetisiert

Dennoch kann man aus der Parallelität der Ereignisse einen gewissen Erkenntnisgewinn ziehen. Die aktuelle menschliche Katastrophe wurde immerhin benannt. Stefan Herheim jedoch, der durch reflektierte und komplexe Inszenierungen bekannt geworden ist, drückt sich ausgerechnet in "Peter Grimes" davor, zu den schlimmen Vorwürfen, die gegen die Titelfigur erhoben werden, Stellung zu beziehen.

Aufnahme von "Peter Grimes" im Nationaltheater.
Aufnahme von "Peter Grimes" im Nationaltheater. © Wilfried Hösl

Dabei ist die Kindesmisshandlung, die im Text durchaus zu greifen ist, heute kein Thema mehr, das man verschweigen oder gar verharmlosen darf. In dieser Hinsicht aber lässt diese Produktion vieles im Ungefähren. Noch dazu ästhetisiert sie nach Kräften.

Die Bühne von Silke Bauer ist irritierend dekorativ. Der Einheitsbau mit Brettergewölbe ist in Teilen beweglich. So unterschiedliche Orte wie Gerichtssaal, Dorfkaschemme und Kirche teilen sich tatsächlich atmosphärisch mit. Wenn sich die Konstruktion öffnet, sieht man die nebelverhangene See, den bestirnten Himmel oder kreisende Fischwärme in den Videoprojektionen von Torge Moller: alles zu schön, um wahr zu sein. Doch Herheim schreckt davor zurück, das Malerische in Kitsch kippen zu lassen und geht somit seinem eigenen Naturalismus auf den Leim.

Stuart Skelton in der Titelrolle: Wuchtig, aber ohne Kontur

Ein Vorteil des Allzweckraumes ist, dass er schallverstärkend wirkt und somit sängerfreundlich ist. Der Wagnertenor Stuart Skelton ist eine wuchtige Besetzung für die Titelrolle, die sonst meist eher feingliedrigen Stimmen anvertraut wird. Gerade im Piano jedoch behält er bemerkenswert viel heldische Substanz. Dass er weder als Leidender noch als Täter eindeutige Kontur gewinnt, liegt an der Personenregie, die auch den noblen Captain Balstrode von Iain Paterson, den kurzfristig eingesprungen Thomas Ebenstein als Bob Boles und den klangsatten Brindley Sherrat als Richter Swallow ihrem eigenen Bewegungsdrang überlässt.

Genau gearbeitet hat Herheim dafür mit dem Chor der Bayerischen Staatsoper, der als Masse nicht nur ständig geometrisch organisiert wird, sondern in den vielen hochkomplizierten Ensemblepassagen sängerisch fabelhafte Schlagkraft entwickelt (Einstudierung: Stellario Fagone).

Die orchestrale Inszenierung übernimmt der englische Dirigent Edward Gardner, der mit "Peter Grimes" am Nationaltheater debütiert. Das gepanzerte Blech, die höhnischen Einwürfe der Holzbläser, die perkussive Rhythmik der Streicher gestatten keinerlei Zweifel an der oftmals nicht einmal unterschwelligen Brutalität des Stückes.

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Die weiblichen Figuren in "Peter Grimes" sind ausnahmslos überzeichnet

Einen anderen problematischen Aspekt stellt die Regie klarer heraus. Praktisch alle weiblichen Figuren sind wahlweise als doofe Teenager, schrille Spelunkenwirtin oder klatschsüchtige Alte überzeichnet. Die von Rachel Willis-Sorensen verkörperte Ellen ist mit ihrem in allen Lagen warmen und farblich großzügigen Sopran und ihrer gütigen Ausstrahlung die einzige weibliche Person, die nicht zur Karikatur verzerrt ist. Dieses fragwürdige Frauenbild, das im Stück selbst angelegt ist, nicht übertüncht zu haben, ist eine der Stärken dieser Inszenierung.


Weitere Vorstellungen am 10. und 13. März (jeweils 19 Uhr) in der Staatsoper, Karten: 089/21851920; außerdem als kostenpflichtiges Video auf staatsoper.tv

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