"Höhenrausch – ein Alpenballett" am Münchner Gärtnerplatztheater: Rätselhafter Traditionsverlust
Wenn wo viel drinsteckt, muss nicht automatisch viel dabei herauskommen. Gern hätte man sich von Georg Reischls "Höhenrausch – ein Alpenballett" und seinen immer wieder ungewöhnlichen Schrittvariationen und Reihenketten für die Tänzerinnen und Tänzer des Gärtnerplatz-Balletts mitreißen lassen.
Alpenbalett im Gärtnerplatztheater: "Der Abend scheitert in allerbester Absicht"
Was da nicht alles durchschimmert an volkstümlich traditionellem Vokabular: Hände, die sich zum Beten falten; Arme, die sich wie bei gedrechselten Holzfigurinen seitlich oder über den Köpfen positionieren; Röcke, die sich bauschen; weit aufgerissene Münder, die an Räuchermännchen erinnern mögen. Zudem wird die Ästhetik durch ein reduziertes, den Raum stetig veränderndes Bühnenbild (Michael Lindner) bestimmt, das unabdingbarer Teil einer ganz choreografisch geprägten Inszenierung zu sein scheint.
Doch all das reicht nicht zum Erklimmen erkennbarer Gipfel. Der Abend scheitert letztlich wohl in allerbester Absicht. Anton Bruckner, dessen 4. Sinfonie "Die Romantische" den allzu bedeutsam-schweren Soundtrack beisteuert, hat die Natur seiner oberösterreichischen Heimat nicht nur geliebt, sondern hier quasi programmatisch einkomponiert.
"Höhenrausch" in München: Widersprüche zwischen Interpreten und Musik
Zum zarten Erwachen der ersten Sonnenstrahlen verblasst ganz zu Beginn von "Höhenrausch" langsam ein Postkartenmotiv vom Wendelstein und gibt den Blick frei auf ein in blumige Dirndl gewandetes, sich recht schematisch bewegendes Ensemble.
Später in Klangpassagen, die mächtig Energie und Bläserpower haben, breitet sich eine den gesamten Abend dominierende wie problematisierende Gewichtigkeit aus. Reischl will oder kann da offenbar nicht mitziehen - zumal der emotionale Grundcharakter und die sich wiederholt in Grimassen äußernde Expressivität seiner Interpreten oft in emotionalem Widerspruch zu dem steht, was die Musik lautmalerisch jauchzend, schwelgerisch und überwältigend erzählt.
Wenig thematischer Inhalt trifft auf Bruckners Klangfülle
Bilder, in denen man die traditionellen Elemente einer dörflichen Kultur als Inspiration für den Choreografen durchaus als solche erkennen mag, werden tänzerisch zwar aufgefächert, bleiben aber meist zu lange stehen. Unfreiwillig kommt dann Langeweile auf. Andererseits ist genügend Zeit, um die schön verschränkten Übergänge wahrzunehmen, sich den szenischen Input bewusstzumachen und zugleich über inhaltliche Aspekte mit ihrem auf Verfremdung getrimmten Look nachzudenken.
Trotz für sich teils schöner Bewegungsbögen und einzelner rührender Momente passiert thematisch allerdings meistens einfach zu wenig - kontrastiert von Bruckners immenser Klangfülle. Da mögen sich Amelie Lambrichts, Jana Baldovino und ihr Männerkollegen-Ringerpaar Joel Distefano und Hikaru Osakabe beim alpenländischen Spielsport "Ranggln" noch so eindrucksvoll verzerrt Fragen nach menschlicher Nähe und sozialer Bindung stellen.
Ob es nun nach rechts oder nach links gehen soll, kommt in diesem zweiten Intermezzo zwischen 2. und 3. Sinfoniesatz als durchaus ermüdendes mimisch-verbales Hick-Hack-Gefecht rüber.
Das ehrgeizige Vorhaben, die Kraft von Traditionen und ihren Einfluss auf uns Menschen zu untersuchen und das Stück zum Sinnbild für eine erfolgsgetriebene, von Individualismus geprägte Leistungsgesellschaft werden zu lassen, geht nicht auf. Zu rätselhaft und irritierend in seinem selbstverständlichen Aplomb beginnt und endet Reischls "Höhenrausch".
""Höhenrausch – ein Alpenballett" im Gärtnerplatztheater: Die Zusammenhänge fehlen
Die gesichtslosen Krampusse in ihren lackschwarzen Zottelumhängen und mit ihren neonleuchtenden Haarsträhnen haben als Nummer bloßen Showcharakter. Man vermisst gerade jene Ebene, die die Anmutung regionaler Bräuche in einen stimmigen Zusammenhang zur dargestellten Andersartigkeit wie generell Heutigem bringen könnte. Reischl setzt in seiner von der Struktur her klar nachvollziehbaren und sogar streckenweise clever konzipierten Choreografie viel zu früh mit der Dekonstruktion von Konkretem an, das er so zuvor noch gar nicht etabliert hat.
Damit überspringt er quasi die Notwendigkeit, erst einmal das Ursprüngliche dessen zu zeigen, aus dem hier ausgebrochen werden soll. Folglich nimmt der Zuschauer, als hätte man vergessen, ihn am eigentlichen Ort des Geschehens abzuholen, eher die Position eines distanzierten Beobachters ein. Reischls "Höhenrausch" ist nicht wirklich selbsterklärend und vermag leider nicht, das Publikum in einen Rauschzustand zu versetzen.
Nächste Vorstellungen: 4., 9., 11.6., 11., 12.7. Staatstheater am Gärtnerplatz. Altersempfehlung ab 12 Jahren. Karten unter
Tel: 21851960