"Die verlorene Ehre der Katharina Blum" im Volkstheater: Deutschlands bleierne Jahre
Es ist Karneval, wie der Fasching im Rheinland heißt, und man trägt lustige Kostüme. Da geht jemand als eine Stange Lauch, jemand anderes als Dinosaurier mit rosa Tutu.
Saisoneröffnung am Volkstheater zeigt wenig Sinn für Jux und Tollerei
Am Tag nach dem "Hausball", an dem Frau Blum teilnahm, tobt ganz offensichtlich die Weiberfastnacht, denn der Schlips von Kriminalassistent Moeding, der Frau Blum einvernimmt, zeigt eindeutige Spuren der symbolischen Kastration, wie sie am letzten Donnerstag der närrischen Zeit Brauch ist. Darüber hinaus zeigt die Saisoneröffnung am Volkstheater wenig Sinn für Jux und Tollerei.
Hausregisseur Philipp Arnold nahm sich auf Grundlage einer Dramatisierung von John von Düffel einen der großen Aufreger der Siebzigerjahre vor: die Erzählung "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" von Heinrich Böll. 1974 löste der Text vor allem im konservativen Milieu erheblichen Unmut sowohl über die Darstellung der Polizei aus als auch darüber, wie die Praktiken der "Bild"-Zeitung geschildert sind.
Diese Zeit war ein erster Höhepunkt des ultralinken Terrorismus der Roten Armee Fraktion. Vor allem die Exekutive litt an chronischem Jagdfieber. Es begann das, was heute als die "bleierne Zeit" der Bundesrepublik erinnert wird.
Regisseur Arnold verschanzt sich hinter den Kameraleuten und deren Nahaufnahmen
In Arnolds Inszenierung bleiben von diesem aufgeheizten Klima nur dezente Zitate in Kleidung (Kostüme: Julia Dietrich) und Inneneinrichtung (Bühne: Viktor Reim) sowie der heute als unschicklich geltende Gebrauch von Zigaretten. Den zornigen Furor von Bölls Buch, das der Autor später selbst als ein "Pamphlet" einschätzte, will Arnold nicht teilen, was grundsätzlich eine gute Entscheidung ist. Aber dann verschanzt er sich doch allzu konfliktscheu hinter den Kameraleuten, die in Nahaufnahmen die Gesichter, vor allem der Blum-Darstellerin Ruth Bohsung, ins Gigantische übertragen.
Diese Projektionen in Schwarz-weiß können nur unzureichend darüber hinwegtäuschen, dass die Bühne 1 des neuen Volkstheaters für ein solches fein erdachtes Kammerspiel-Konzept mindestens eine Nummer zu groß ist. Auch mit seinem Einfall, die Protagonistin gegen Ende zu verdoppeln (Nina Steils), weiß Arnold selbst nichts anzufangen. Die beiden Katharinen bemerken sich im überschaubaren Appartement nicht einmal.
Katharina Blums Ich ist massiv bedroht von der öffentlichen Meinung
Leicht erhellend ist Sigmund Freud, der im Programmheft zitiert wird: "Der Doppelgänger war ursprünglich eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs". Katharina Blums Ich ist massiv bedroht von der öffentlichen Meinung. Was heute die Shitstorms in den Sozialen Medien sind, war damals der hasserfüllte Anruf Namenloser aus einer Telefonzelle oder der anonyme Schmähbrief per Post. Zentrales und mehr oder weniger einziges Thema der knapp 90-minütigen Aufführung ist die postmoderne Allgegenwart der Medien in Bild und Ton.
Für die Schauspielerinnen und Schauspieler ist der Auftrag, emotionsarm eine Figur herzustellen, aber auf keinen Fall die medial übermittelte Projektion dieser Figur mit zu zeigen, ein harter Job. Ruth Bohsung ist die Titelheldin, der zur Last gelegt wird, die Geliebte eines flüchtigen Kriminellen zu sein. Sehr zerbrechlich, recht störrisch und völlig überfordert von ihrer Situation als öffentliche Person sitzt das "Blümchen", wie sie spöttisch genannt wird, im tristen Verhörzimmer.
Die Herren bleiben Männer ohne Eigenschaften
Sie ist drei Männern ausgeliefert, die selbst in ihren Rollen gefangen sind: Kriminalkommissar Erwin Beizmann (Jonathan Müller) und sein Assistent (Max Poerting) probieren es im Good-Cop-Bad-Cop-Modus und der "Bild"-Reporter Werner Tötges (Julian Gutmann) droht seinem journalistischen Opfer vernichtende Fake News an, wenn es sich nicht vertrauensvoll mit seiner ganzen Geschichte an ihn wendet.
Trotzdem bleiben die Herren Männer ohne Eigenschaften. Der von Heinrich Böll für die Bühne übernommene Untertitel "Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann" bleibt an diesem Abend ein ungelöstes Rätsel.
Münchner Volkstheater, Tumblingerstraße 29, wieder am 26. September, 2., 5. Oktober, 1. November, 19.30 Uhr, Karten unter Telefon 52 34 655