"Das Vermächtnis" im Residenztheater: Wiedersehen mit Howards End
München - Nicht einfach ein Stück, sondern ein mächtiger Brocken Schauspiel, der vor vier Jahren bei der Uraufführung in London als das "vielleicht wichtigste amerikanische Theaterstück des Jahrhunderts" gefeiert wurde: Das Rollenbuch von "Das Vermächtnis" des US-Autors Matthew Lopez umfasst 280 Seiten und in der deutschsprachigen Erstaufführung am Sonntag im Residenztheater spielen zehn Schauspieler und eine Schauspielerin 35 Figuren. Die eine Frau ist Nicole Heesters, die ihren Gastauftritt erst gegen Ende der fünfeinhalb Stunden dauernden Vorstellung hat.
Über die Proben zu diesem Dramen-Marathon, der allerdings auch in zwei Teilen an verschiedenen Abenden angesehen werden kann, äußert sich Regisseur Philipp Stölzl euphorisch.

Nur der "Landeanflug" war "etwas herausfordernd" und musste wegen Erkrankungen im Ensemble um eine Woche verlängert werden. Über die Entscheidung, die 25-Prozent-Regelung für die Platzausnutzung in den Theatern wenigstens auf 50 Prozent zu lockern, ist Stölzl sehr erleichtert.
Zwar sei das Stück einerseits "melodramatisch, aber andererseits auch sehr lustig mit fast boulevardeskem Humor und Sprachwitz", der vor fast leerem Saal nicht zur Geltung kommen könne. Der große Männerüberschuss hat nicht zuletzt damit zu tun, dass der Text aus der homosexuellen Szene New Yorks in den beiden ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts erzählt. Das Land erlebte in dieser Zeit weit auseinander liegende Positionen des politischen Führens zwischen dem liberalen Barack Obama und dem rassistischen und auch homophoben Donald Trump.
"Im Kern hat das Stück mit schwuler Identität und Community zu tun"
Die Bedrohung durch Aids ist in der queeren Gesellschaft dieser Generation kein Thema mehr: "Kein Stigma, kein Trauma, sondern eine Erinnerung, die aber gemeinsame Identität schafft", erläutert Stölzl. "Im Kern hat das Stück mit schwuler Identität und Community zu tun und den politischen Fragen, die sich daran knüpfen".
Da gehe es längst nicht mehr um eine Minderheit in dunklen Kellerbars, die wegen ihrer Orientierung von Strafverfolgung bedroht ist, sondern um ein Mittelstands-Milieu, in dem man heiratet und Kinder adoptiert.
Auf der anderen Seite sei das Werk "eine romanhafte, schicksalhafte Erzählung über Freunde und Liebende. Eine Erzählung für alle, nicht nur für die queere Community", findet Stölzl. "Die Gefühle wie Hoffnung, Angst, Eifersucht oder Verlangen, um die es da geht, sind tief menschlich und, von Nuancierungen abgesehen, unabhängig von sexueller Orientierung und Milieu emotional zu lesen."
Seine Erdung findet das großangelegte Gesellschaftsdrama in der englischsprachigen Literaturgeschichte. Matthew Lopez beschwor die Geister von E. M. Forster und dessen Roman "Howards End".
Der spätviktorianische Schriftsteller gehört in Großbritannien zum "klassischen Bildungskanon wie bei uns Goethe", erklärt Stölzl, der einräumt, dass der Spagat zwischen der Welt in Howards End und jener in "Das Vermächtnis" ein großer sei.
Aber Lopez habe dem 1910 erschienenen Roman verschiedene Figurenkonstellationen entnommen wie auch das magische Haus, das als Fluchtpunkt dient.
"Wir arbeiten mit Fragmenten von Realität"
Der 55-jährige Regisseur spricht von einer "freien Übermalung" der Vorlage, die immer wieder "auf überraschende Weise durchschimmert". Er lebt zwar heute in Berlin, ist aber geborener Münchner, der schräg gegenüber vom Residenztheater seine Theaterkarriere begann. Der legendäre Jürgen Rose gehörte zu den Lehrern seiner Ausbildung zum Bühnenbildner an den Kammerspielen.
Inzwischen ist er ein Künstler, der seine Fußstapfen weitläufig hinterlassen hat. Er führt auch Regie für die Bühne und fürs Kino wie 2019 beim Musicalfilm "Ich war noch niemals in New York" mit Udo-Jürgens-Hits oder verfilmte 2020 Zweigs "Schachnovelle". Dazu kommen eine Reihe Operninszenierungen. Seinen spektakulären Clowns-Kopf beim Bregenzer "Rigoletto" haben auch Leute noch in Erinnerung, die in den letzten Jahren nicht am Bodensee waren.
Die "Kraft und der Sog einer Bilderzählung" gehören für ihn zum Theater dazu. "Das Vermächtnis" wie bei seiner Uraufführung am Young Vic Theatre sechs Stunden lang auf einer leeren Shakespeare-Bühne zu spielen, sei deshalb nicht sein Weg gewesen.
"Die Gewerke bauen über die ganze lange Strecke konstant um"
"Wir arbeiten mit Fragmenten von Realität, stellen so etwas wie einen filmischen Szenenfluss her. Das Stück hat raffinierte Blenden zwischen improvisierter Behauptung und dem Naturalismus des Well-made-plays."
Großen Respekt hat er vor der technischen Mannschaft am Max-Joseph-Platz: "Die Gewerke bauen über die ganze lange Strecke konstant um, leise und superpräzise. Das ist eine große Herausforderung und gelingt zum einen, weil sie es einfach können, zum anderen weil die Frauen und Männer hinter der Bühne eine wirkliche Leidenschaft fürs Theater haben."
Residenztheater, Premiere am Sonntag, 15 Uhr, beide Teile am 19. Februar, 16 Uhr, Teil 1: 31. Januar, 17. Februar, Teil 2: 1., 18. Februar, 19.30 Uhr, Telefon 21851940