"Alpensinfonie" als Oper für alle: Vladimir Jurowski und Yefim Bronfman begeistern am Marstallplatz in München
Man weiß nicht, wie lange der kleine Junge schon ausharren musste: Um sechs Uhr abends, als der Rezensent den Marstallplatz überquert, sind er und seine Mutter auf jeden Fall schon da.
Überhaupt kriegt man eine gute Stunde vor Beginn des Open Air-Konzerts, wenn vor überdachten Abendkassen noch gar nichts los ist, nur noch Plätze im hinteren Bereich neben der klassizistischen ehemaligen Hofreitschule, die im Abendsonnenlicht glänzt wie auf einem Werbeprospekt. Einheimische und Touristen – schwer zu entscheiden, zu welcher Gruppe die paar Trachtenträger gehören - lieben die "Oper für alle"-Programme der Bayerischen Staatsoper.
500 Jahre Bayerisches Staatsorchester: Das Publikum am Marstallplatz bleibt konzentriert
Den meisten Leuten reichen ein paar Decken, wichtiger als Kissen sind Rucksäcke und Tragebeutel für den größtenteils flüssigen Proviant, Wein, Sekt und Selters. Alles wird aus Plastikbechern konsumiert; Glasflaschen sind verboten, darauf achten die freundlichen Ordnerinnen und Ordner beim Einlass. Der Bub im karierten Hemd kriegt ein Limo.
Seine Mutter kann sich mit ihren Freundinnen (seinen Tanten?) unterhalten, aber für einen geschätzt Sieben-, Achtjährigen mit entsprechendem Bewegungsdrang dürfte die Zeit, in der er brav stillzusitzen hat, lang werden. Sollte das so sein, lässt er sich nichts anmerken. Wenn er repräsentativ für das nachwachsende Konzertpublikum ist, braucht man sich keine Sorgen zu machen.
"Alpensinfonie" in München: Auf Tuchfühlung mit dem Publikum
Schön ist der Moment, wenn es endlich losgeht und über der spätsommerlich gekleideten Menschenmenge andächtige Ruhe einkehrt. Das Klavierkonzert a-moll von Robert Schumann wird über Lautsprecher übertragen, aber Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski schafft es wie Wenige vor ihm, diese Distanz vergessen zu machen und mit dem Publikum gleichsam auf Tuchfühlung zu gehen.
Er verbreitet Ruhe am Pult des Bayerischen Staatsorchesters, das in diesem Jahr 500-jähriges Bestehen feiert. Schumanns ganze Poesie, sein Sinn für subtilste Gefühlsregungen, weht über den Marstallplatz. Selbst das übermütige Finale verhetzt Jurowski nicht, sondern bringt die metrischen Ambiguitäten zum Schweben. Nicht nur der tapfere kleine Junge hört interessiert zu. Auch ein Baby jauchzt mehrmals auf.

Vladimir Jurowski und Yefim Bronfman: Rhythmus, Eleganz und Anmut
Der spezifisch spitze, immer ein wenig klirrende Ton von Yefim Bronfman wird durch die technische Übersetzung der Sound-Anlage ein wenig beschnitten. Doch dem Pianisten, seit jeher einem Mann für alle Lebenslagen, ist es gegeben, das Menschenmögliche an klanglichem Volumen aus dem Flügel herauszuholen. Vollkommen verlustfrei erhalten bleiben seine Genauigkeit im Rhythmischen, die Beredtheit seines Phrasierens, die Eleganz, mit der er die Triller ausführt.
Nach seinem Auftritt verschwindet Bronfman nicht im Hotelzimmer, sondern lässt sich auf der Terrasse des Restaurants nieder, um sich die "Alpensinfonie" von Richard Strauss anzuhören. Es wäre auch schade gewesen zu verpassen, mit welcher Anmut Vladimir Jurowski die 114 Musiker durch das Werk führt.
Auch das Wetter über der Bayerischen Staatsoper spielt mit
Für eine Freiluftaufführung ist die Realisierung des Staatsorchesters, das nach diesem Konzert auf Europa-Tournee gehen wird, phänomenal detailreich. Knackig lässt das schwere Blech ein erhabenes Bergmassiv auf dem Marstallplatz erscheinen, doch die Hörner singen so zart, wie es für das Spiel des Komponisten-Vaters Franz Strauss überliefert ist, und die Streicher bewältigen den "Anstieg" mit leichtfüßigen Akzenten.
Entgegen der musikalischen Beschwörungen des Staatsorchesters hält der Himmel über der Landeshauptstadt auch dicht, als die Flöten und Oboen die ersten leisen Regentropfen tonmalen, aber die Dramatik von Paukengrollen und Windmaschine zieht den kleinen Jungen aus den ersten Absätzen sichtbar in ihren Bann. Beklommen schaut er seine Mutter an. Vor dem melancholischen "Sonnenuntergang" muss er zwar noch einmal schnell aufs Klo, aber nachdem sich die "Alpensinfonie" in den Münchner Nachthimmel eingehüllt hat, springt er ohne elterliche Aufforderung auf und klatscht begeistert Beifall. Wenn ein gut 50-minütiger orchestraler Koloss ein Kind derart einzuvernehmen vermag: dann kann man hier wirklich von "Oper für alle" sprechen.
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